Karte im Detail: Der Mond

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Ein Hund und ein Wolf heulen gemeinsam den Mond an.

Mit Hund und Wolf haben wir ein vertrautes Paar vor uns, dem wir dennoch noch immer mit vielen Vorurteilen und viel Unwissen begegnen. Viele Menschen haben Angst vor Wölfen und beobachten die ersten zaghaften Wiederansiedelungsprojekte in unseren Wäldern mit großem Misstrauen. Landwirte, die unter medialer Anteilnahme herbe Verluste in ihren Schafherden beklagen sind rasch zur Stelle, meist gefolgt von besorgten Eltern, die um die Sicherheit ihrer schutzlosen Kinder bangen. Der Wolf ist kein gern gesehener Gast bei uns.

Dabei war es mit Sicherheit kein Zufall, dass der Mensch vor etwa 100.000 Jahren begann, mit Wölfen und deren Nachfahren enger zusammenzuleben als mit jedem anderen Tier. Die Schätzungen für den Zeitpunkt der einsetzenden Domestizierung des Wolfes schwanken beträchtlich, die eingangs genannten 100.000 Jahre stammen aus einer Analyse von Hunde-Erbmaterial (DNA). Fossile Knochenfunde, die mit heutigen Hunden besser als mit  Wölfen übereinstimmen, sind immerhin zwischen 33.000 und 40.000 Jahren alt, stammen also aus der Endphase der sogenannten Altsteinzeit. Selbst 33.000 Jahre sind unvorstellbar lange her, möglicherweise besaßen wir damals noch nicht einmal so etwas wie eine Sprache, von der manche Forscher glauben, dass sie sich erst im Zuge der einsetzenden Sesshaftwerdung entwickelt hat. Die zuvor nomadische Lebensweise wurde zugunsten von Ackerbau und Viehhaltung aufgegeben, und vielleicht waren die gezähmten Wölfe zunächst bei der Jagd, später beim Schutz der neu entstehenden Behausungen und Tierherden nützlich.

Die Entwicklung des Hundes aus dem Wolf (bzw. dessen Vorfahren) ist ein kulturelles Erbe der Menschheit, das deutlich älter ist als selbst die ältesten uns bekannten Höhlenzeichnungen – die 40.000 Jahre alte Cueva de El Castillo in Spanien oder die berühmten 15.000-36.000 Jahre alten Höhlenmalereien von Lascaux in Frankreich!

Es dürfte übrigens nicht nur die Wehrhaftigkeit dieser Tiere gewesen sein, sondern vor allem auch das ausgeprägte Sozialverhalten der Wölfe, die diese einzigartige Verbindung mit uns Menschen ermöglicht hat. Bloch z.B. schildert aus seinen Beobachtungen in freier Wildbahn, dass sich Timberwölfe um verletzte Tiere ihres Familienverbandes kümmern, die ohne diese Hilfe mit Sicherheit verenden würden.

Und so verweisen ein domestizierter Hund und ein wilder Wolf gemeinsam auf einem Bild (in Natura übrigens kaum vorstellbar) auf die beiden vorläufigen Endpunkte auf der Achse einer viele zehntausend Jahre langen Entwicklung, die diese Caniden gemeinsam mit uns Menschen durchlebt haben. Gemeinsam, weil sich nicht nur der Wolf zum Hund entwickelt hat, sondern auch wir selbst uns in diesem Zeitraum massiv verändert haben. Die bereits erwähnte Sprache, die wir uns seither angeeignet haben ist sicher mehr als nur ein Indiz für diese Veränderung: Es geht um Kommunikationsfähigkeiten, bei uns Menschen wie beim Hund. Im Vergleich zu Wölfen weisen Hunde ein deutlich ausgefeilteres Repertoire an Äußerungsmöglichkeiten auf – wer länger mit einem Hund zusammenlebt, kann bestimmt dutzende unterschiedliche Arten von Bellen, Wuffen, Knurren, Fiepen, Grunzlauten usw. unterscheiden, die einzig und alleine dem Zweck dienen, sich mit uns zu verständigen.

So sehen wir mit diesen beiden Tieren also auch unsere eigene Entwicklung quasi wie ein Spiegelbild vor uns und mögen uns daran erinnern, dass wir neben dem kulturell überformten modernen Menschen mit Smartphone, Rußpartikelfiltern und veganen Fastfood-Restaurants auch noch eine ursprüngliche Tier-Natur in uns tragen, mit Instinkten, einem uns bewusst nicht zugänglichen autonomen Nervensystem, das alle körperlichen Automatismen in uns regelt, unserem limbischen System, das unter anderem die Emotionen und Triebe steuert und dem, was die Tiefenpsychologie klassischerweise „das Unbewusste“ nennt.

Weitere Hunde im Tarot

Neben dem Mond gibt es nur noch zwei weitere Karten im Waite-Smith-Tarot, in der Hunde dargestellt werden: ein kleiner Spitz oder Terrier beim Narren und zwei Jagdhunde (vermutlich Bracken, aufgrund der langen Nasen könnten es auch Windhunde – Greyhounds oder Whippets – sein) bei der 10 der Münzen:

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Die beiden Karten zeigen in gewisser Weise die Endpunkte einer Lebensreise: Der jugendlich-unvoreingenommene Narr weiß offensichtlich gar nicht, in welch gefährlichem Gelände er sich bewegt – zu seinem Glück wird er von seinem Begleiter vor dem drohenden Abgrund gewarnt. Der Alte Mann auf den 10 Münzen dagegen hat sein Leben beinahe hinter sich. Er streichelt einen der Hunde, ein kleines Kind den zweiten – wird er der nächste „Narr“ werden? Die lebenslange Erfahrung des Alten und das unmittelbare Erleben des Kindes treffen sich bei der Zuneigung zu ihren vierbeinigen Begleitern. Ein Bild der Dankbarkeit und Liebe, und in jedem älteren Menschen steckt irgendwo noch genau dieses Kind mit seinem unmittelbaren Zugang zu allem Kreatürlichen dieser Welt.

Beide Bilder können wir – wie so oft im Tarot – durchaus ganz wörtlich nehmen und wer mit Hunden zu tun hat, dem wird dabei sicher das Herz aufgehen. Aber zugleich unterstreichen sie auch die Aussage auf der Karte „der Mond“, in der der Hund nicht nur für sich selbst steht, sondern zugleich auch für den Anteil an Bewusstheit, Kultur, Kommunikationsfähigkeit und „Zivilisation“ in uns, der über viele Jahrtausende gewachsen ist, und der uns hilft, diese schwierige Reise „Leben“ zu bestehen.

Doch zurück zu unserer Karte, dort gibt es noch mehr zu entdecken.

Der Kern der Dualität: Zwei Türme

Wandert unser Blick vom Vordergrund ziemlich genau in die Bildmitte, so sehen wir zwei Türme, die uns erneut im Hintergrund der Karte „XIII – Tod“ begegnen werden, aber auch in stilisierter Form als zwei Säulen bei der Hohepriesterin, bei dem Hierophanten und bei der Gerechtigkeit. Mit etwas Phantasie mag man auch die beiden Bäume auf der Karte die Liebenden oder die beiden Schwerter auf der 2 der Schwerter (oder generell den Zweier-Karten) dem gleichen Muster zuordnen. In allen Fällen handelt es sich um Darstellungen von Dualität.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Die Dualität von Hund und Wolf – kultureller und animalischer Natur wird auf das allgemeine Prinzip „Dualität“ ausgeweitet. Damit haben wir ein, wenn nicht das Grundthema spiritueller Wege vor uns. Wir sind in ein Leben geworfen, das sich in einem grundsätzlichen Spannungsfeld bewegt. Was in kleiner Skala die Dualität von Kultur und Natur ist, stellt sich in letzter Konsequenz als die Dualität zwischen uns selbst als Individuum und dem ganzen Rest des Universums dar. Uns als Menschen ist diese Trennung irgendwann im Laufe unserer Entwicklung ins Bewusstsein gesickert, eine Trennung, die z.B. nach Auffassung des Buddhismus letztlich eine Illusion und zudem eine Quelle von Leiden ist, die es zu überwinden gilt.

Alle anderen Formen der Dualität wie „männlich“ – „weiblich“, „yin“ – „yang“, „gut“ – „böse“, „Introversion“ – „Extraversion“, „geistig“ – „körperlich“ durchdringen zwar unseren Alltag, sind dagegen aber nur Banalitäten im Vergleich zur fundamentalen Dualität zwischen dem „Ich“, das ja bereits ein ganzes Universum in sich selbst trägt, eine Lebensgeschichte, Erinnerungen und Erwartungen, das sich selbst unmittelbar zu spüren imstande ist, das das „hier und jetzt“ zu erfahren imstande ist und auf der anderen Seite allem anderen, was von diesem „Ich“ getrennt ist. Und dieses Andere ist ja tatsächlich „alles andere“, ein unendlich großes Universum, das sich allerdings im Gegensatz zum „Ich“ der unmittelbaren Seins-Erfahrung entzieht: Wir können freilich jeden Gegenstand angreifen, aber damit spüren wir letztendlich nur unsere eigenen Rezeptoren (also wieder nur uns selbst!), ohne je zu wissen, wie es ist, eben jener Gegensand selbst zu sein. Auch wenn wir den Gegenstand in seine Teile zerlegen, es bleibt eine unüberwindbare Trennung zwischen uns selbst und diesem Gegenstand oder zwischen uns selbst und einem anderen Menschen oder einem Tier – ja selbst einen simplen Stein sind wir nicht in der Lage unmittelbar zu erfahren.

Haben Sie schon einmal von einem Spiegel geträumt? Der Spiegel ist ein schönes Sinnbild für eben diese Dualität: Diesseits des Spiegels stehen wir und alles, was wir von der Welt erfahren können sind nicht mehr als die Spiegelungen unserer Sinne. Nicht zufällig handelt ein berühmtes Kinderbuch davon, was das kleine Mädchen Alice erlebt, wenn es ihr gelingt in die Welt hinter den Spiegeln zu gelangen.

Den Dualismus finden wir übrigens nicht nur im Buddhismus, sondern als Grundgedanken auch in einigen großen religiösen Bewegungen wie den Manichäern, in der Gnosis oder bei den später grausam verfolgten christlichen Katharern. Ein guter Gott ist der Schöpfer der geistigen Welt (ist das nicht unsere „innere Welt“, zu der wir einzig unmittelbaren Zugang haben?) und ein böser Gott ist der Schöpfer der materiellen Welt. Eine materielle Welt, an der wir leiden, ja leiden müssen, weil ihr das Leid immanent ist und wir sie nie vollständig begreifen werden.

Was sehen wir noch?

Der Mittlere Weg

Der Mond: Mittlerer Weg. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Ein Pfad windet sich durch das Bild, beginnend im Wasser, das den Vordergrund einnimmt, zwischen Hund und Wolf und später zwischen den beiden Türmen hindurch, bis er schließlich in einer weit entfernten Gebirgslandschaft mündet. Ein weiter Weg, ganz ohne Zweifel aber auch schon rein optisch ein „mittlerer Weg“.

Der Mittlere Weg ist ein sehr altes Bild im Buddhismus. Auf einer noch recht praktischen Ebene taucht er bereits im Pali-Kanon auf und bedeutet schlicht die Vermeidung von extremen Lebensweisen, um als Mönch die Erleuchtung zu erlangen. Weder sollen wir uns dem Anhaften an die sinnliche Welt von Gier, Abscheu usw. hingeben, noch deren Gegenteil der extremen Askese und Selbstqual.

In späteren Jahrhunderten wurde daraus insbesondere durch Nagarjuna (ca. 2. Jh. n. Chr. in Indien) ein erkenntnistheoretischer Weg, der sich damit beschäftigt, wie die Dinge an sich beschaffen sind. Und hier gilt es wieder, extreme Positionen zu vermeiden:

Nichts existiert aus sich selbst heraus.

Bei näherer Betrachtung lässt sich tatsächlich alles in Einzelteile zerlegen, ist aus etwas anderem entstanden und wird wieder vergehen. Da ist kein „Computer“, vor dem wir sitzen, sondern etwas, das sich noch während wir damit hantieren verändert, altert und schließlich vergehen wird (im Falle des Computers normalerweise zu einem dafür maximal unpassenden Zeitpunkt).

Andererseits ist dieser Computer aber auch keine Illusion unseres Geistes. Der Computer ist schon irgendwie „da“! Wir leben nicht in einer Welt wie im Film „Die Matrix“, die uns nur vorgaukelt, real zu sein. Zu glauben, alles sei nur eine Illusion wäre im Sinne Nagarjunas die andere Extremposition, die wir vermeiden sollten.

Die Buddhisten der aus Nagarjunas Lehren hervorgegangenen Mahayana-Schule kamen zu dem Schluss, dass alles (auch wir selbst!) keine Existenz aus sich selbst heraus besitzt, sondern immer aus anderen Dingen entstanden sind, die freilich ebenfalls keine eigene Existenz aus sich selbst heraus besitzen. Der Computer wurde aus seinen Einzelteilen zusammengebaut, aber auch diese Einzelteile wurden einmal hergestellt, die Rohstoffe dafür sind nicht einfach „da“ gewesen, sondern durch chemische Prozesse entstanden, die Elemente dieser Rohstoffe sind irgend wann einmal in einer Sonne aus einfacheren Elementen wie Wasserstoff und Helium „erbrütet“ worden, die Sonnen wieder sind durch Zusammenballungen von gigantischen Gaswolken entstanden, die so massereich waren, dass die Energie ihrer Schwerkraft zur Kernfusion gereicht hat, die Gaswolken usw. usw.

Und auch in Zukunft wird das so weiter gehen. Übrigens nicht nur für unseren armen PC, sondern auch für das, was wir für uns selbst halten. Wir werden sterben, das ist trivial, aber zuvor werden wir uns laufend weiter verwandeln, wie wir das schon seit Kindertagen getan haben. Oder sind Sie tatsächlich der gleiche Mensch wie mit 3 Jahren? Wir glauben das irgendwie, aber tatsächlich haben wir uns seit dem Alter von 3 Jahren nicht nur körperlich komplett verändert (viele unserer Zellen leben nur wenige Tage bis Wochen), sondern auch in unserem Bewusstsein. Unser „Ich“ mit 3 Jahren gibt es schon lange nicht mehr. Wir erinnern uns nur noch daran.

Trotzdem existieren wir natürlich, wir bilden uns das nicht nur ein. Aber das, was da existiert ist eher als ein Prozess zu begreifen, etwas das sich aufgrund vielfältiger Ursachen (die den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie wir selbst unterworfen sind) immer weiter verändert. Diese Art der Existenz wird als „Leerheit“ bezeichnet, weil sie nicht aus sich selbst heraus da ist, sondern immer als das abhängige Ergebnis von etwas anderem entsteht.

Es ist kein Zufall, dass dieser mittlere Weg in ein Gebirge führt – ein Sinnbild für höhere geistige Erkenntnis.

Noch weiter zurück

Der Krebs steigt aus dem Wasser. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Wenn wir den Weg zu seinem Ursprung zurückverfolgen, sehen wir einen ziemlich großen Krebs oder Hummer, der eben aus dem Wasser im Vordergrund krabbelt und sich auf den oben beschriebenen Pfad begibt.

Der Krebs ist ein entwicklungsgeschichtlich sehr altes Tier. Krebse gibt es seit dem Beginn des Paläozoikums vor über 500 Millionen Jahren. Bis zum Erscheinen der ersten Vorformen von Säugetieren würde es noch mindestens 200 Millionen Jahre dauern. Das ist – selbst angesichts der bereits beleuchteten 100.000 Jahre dauernden gemeinsamen Geschichte von Mensch und Hund/Wolf ein unglaublich langer Zeitraum.

Auch mit diesen sehr ursprünglichen Lebensformen teilen wir ein gemeinsames Erbe aus unserer evolutionären Entwicklung, aber vieles erscheint und denkbar fremd: Fühler, viele Gliedmaßen, ein Außenskelett statt unserer Knochen, anders aufgebaute Sinnesorgane und ein völlig anders organisiertes Gehirn. Ein „Alien“ gewissermaßen, das sich uns da zeigt.

Schieben wir die Biologie etwas beiseite und betrachten nur das von Pamela Colman Smith (die ganz gewiss keine Evolutionsbiologin war) gemalte Bild: Der Krebs steigt aus einem Gewässer, in dem wir im Gegensatz zum „Landleben“ darüber noch keinerlei Anzeichen der Dualität erkennen können. Alles ist eins. Auf dieser archaischen Stufe gibt es noch keine Dualität. Wir tragen ein uraltes „Erbe“ in uns, das älter ist, als die für uns heute allumfassende Dualität.

Tradition ist Schlamperei…

… meinte einst der Komponist und Dirigent Gustav Mahler über allzu bequem gewordene Arten, mit der Musik vergangener Jahrhunderte umzugehen.

Dabei wären die traditionellen, selbst die psychologisch angehauchten Deutungen der Karte „der Mond“ doch so einfach: Gemäß der heute üblichen naiven Betrachtung der Karte geht es um Ängste, das Unbewusste, Nacht, vielleicht auch um die hilfreichen (Hund) und die bedrohlichen (Wolf) Gefährten bei einer solchen Nachtmeerfahrt ins Unbewusste. Wie der Wolf ist die Karte „Der Mond“ dann auch kein allzu gern gesehener Gast, wenn man sie denn zieht.

Nun ist tatsächlich eine der wichtigsten Aufgaben eines spirituellen Weges, sich dem zu stellen, was uns ängstigt, was uns fremd und vielleicht unheimlich ist und zu erkennen, dass das alles im Grunde aus unserem Innersten stammt. Insofern ist die triviale Deutung „Mond = Ängste“ nicht völlig unsinnig.

Dennoch handelt die Karte „Der Mond“ weder von Ängsten noch vom Unbewussten.

Sie handelt davon, einen mittleren Weg zu finden, der uns nicht nur Extreme vermeiden lässt, sondern uns als spiritueller Pfad möglicherweise auch die Dualität und das mit ihr verbundene Leiden überwinden lässt. Der Krebs ist ein Hinweis darauf, dass wir das alles eigentlich schon längst wissen – irgendwo, in einer tief verborgenen Schicht unserer Seele.

Ich hoffe auf Nachsicht, wenn ich an dieser Stelle erneut auf den Buddhismus verweise: In der Dzogchen-Lehre der Nyingma-Schule des Buddhismus wird davon ausgegangen, dass es eine wahre, ursprüngliche Natur des Menschen jenseits der Dualität gibt, die es mit Hilfe fortgeschrittener Meditationstechniken „nur noch“ zu entdecken gilt. Ach ja, wenn das mal so einfach wäre…

Und was ist jetzt eigentlich mit dem Mond los?

Wir haben viele Aspekte dieser außergewöhnlich komplexen Karte betrachtet, aber noch kein Wort über den Mond verloren! Und der sieht zunächst überhaupt nicht aus wie ein Mond.

Wir sehen ein kreisrundes Gebilde, das von einem Strahlenkranz mit 32 Strahlen umrahmt ist. Ist das eine Sonne? Strahlen werden in keinem mir bekannten Bild für eine Darstellung des Mondes verwendet, aber sehr häufig für die Sonne. In dem Gebilde befindet sich ein Gesicht (das „Mondgesicht“?) und am oberen rechten Rand sehen wir eine Sichel, die eine Mondsichel sein könnte. Ist das eine (partielle) Sonnenfinsternis, in der sich der Mond vor die Sonne schiebt? Und dann gibt es noch die 15 „Tropfen“, die von dieser Sonne/Mond-Konstellation herab zu regnen scheinen. Wenn ich selbst einen Mond darstellen müsste, würde mir wahrscheinlich nicht dieses sehr spezielle Bild einfallen…

Ist da vielleicht die Phantasie mit Pamela Colman Smith durchgegangen?

Interessanterweise ist die Bildkomposition beinahe 1:1 identisch mit derjenigen, die wir bereits im viel älteren Tarot de Marseille finden: Ein Krebs steigt aus dem Wasser, Hund und Wolf (oder zwei Hunde), dahinter zwei Türme und darüber diese merkwürdige Darstellung von Sonne und Mond, aus der Tropfen herabfallen. Selbst Aleister Crowley und Lady Frieda Harris, sonst kaum um eine originelle neu-Deutung der Symbolik verlegen, greifen auf eine nahezu identische Bildkomposition zurück. Lediglich Hund und Wolf sind durch ägyptische Anubis-Figuren ersetzt. Geschenkt.

Lassen wir die Anzahl Strahlen und die Anzahl der herabfallenden Tropfen einmal außen vor – auch dafür gibt es Erklärungen, die auf die Zahlensymbolik der Kabbalah verweisen, ebenso wie die Form der Tropfen, die dem hebräischen „Jod“ ähneln.

Wirklich erstaunlich ist doch: Eine Karte soll den Mond darstellen. Das wird über ein Bild der Sonne versucht! Das ist merkwürdig, oder?

Tatsächlich würden wir niemals etwas vom Mond wahrnehmen, wenn es die Sonne nicht gäbe. Der Mond wäre nichts als eine unauffällige dunkle Scheibe, von deren Existenz wir nur deshalb Kenntnis hätten, weil sie andere, entferntere Himmelskörper regelmäßig verdeckt. Was wir tatsächlich sehen: einen zu- und abnehmenden, nachts hell leuchtenden Mond, verdanken wir ausschließlich der nächtlichen Reflexion der Sonnenstrahlen auf der Mondoberfläche.

Umgekehrt ist der – im Vergleich zur Sonne extrem winzige – Mond in der Lage, diese bei einer Sonnenfinsternis komplett zu verdecken. Ein bizarres Gleichgewicht der Kräfte, obwohl die beiden Himmelskörper extrem unterschiedlich ausgeprägt sind.

Und damit sind wir unvermittelt wieder beim Grundthema der Dualität (und der Karte „Der Mond“): Mond und Sonne, vollkommen unterschiedlich und doch gegenseitig abhängig, wie wir selbst als Individuum gegenüber dem Rest des Universums. Als Sinnbild für die allgegenwärtige Dualität und deren mögliche Auflösung ist die Darstellung einer Mondfinsternis bestimmt keine schlechte Idee.

Was fehlt noch?

Die übliche Übung von TarotPsychologie.de: Versuchen Sie sich hineinzuversetzen, wie es ist, der Hund auf der Karte zu sein. Oder der Wolf – was ist anders? Und wie fühlt es sich an, als archaischer Krebs aus dem Wasser zu steigen?

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. http://www.koenigsfurt-urania.com/

Karte im Detail: Die Sonne

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Die Sonne, so wie sie von Pamela Colman Smith gezeichnet wurde, ist eine frappierende Darstellung des „Kind-Archetypus„, wie ihn C. G. Jung beschrieben hat [C. G. Jung: Zur Psychologie des Kindarchetypus, 1940 in Edition C. G. Jung Bd. 9/I]. Die Sonne selbst, generell runde Symbole, z.B. die Sonnenblumen im Hintergrund gehören ebenso zu diesem Archetypus wie auch die Unterstützung durch ein hilfreiches Tier. Überhaupt Tiere: Der Tarot von Pamela Colman Smith und Arthur Edward Waite wimmelt ja im Grunde von Tieren: Fische, Vögel, jede Menge Pferde, Schlangen, eine Katze, ein Krebs, eine Schnecke, ein Wolf, ein paar Fabelwesen und natürlich einige Hunde. Bevor wir in die übliche Analyse von Szenerie und Akteuren auf der „Bühne“ der Karte einsteigen, möchte ich den Kind-Archetypus noch etwas vertiefen (oder auch vertiefenpsychologisieren, wenn man so will).

Ein kurzer Ausflug in die Tiefenpsychologie von C. G. Jung.

Im Sinne eines Kind-Archetypus sollten wir etwas näher auf eine der berühmtesten „Kind“-Geschichten überhaupt einzugehen – gemeint ist natürlich das Christkind und die ganze darauf folgende höchst dramatische Entwicklung von Christus als Erlöser bis zum Opfertod am Kreuz und weiter. Der Beginn dieser Geschichte allerdings liegt in einer Krippe, neben der wir Ochs und Esel als hilfreiche Tiere finden. Die Natur selbst scheint das kostbare Kind zu schützen.

Das Wesen des Kind-Archetypus gehört allerdings zu den „schwierigeren“ Archetypen, die man bei C. G. Jung finden kann, es wird schon einigermaßen mystisch: Der Ursprung des Kindes liegt im leidvollen Konflikt einer Dualität (nämlich zwischen dem entwicklungsgeschichtlich vergleichsweise jungen Bewusstsein und dem uralten Unbewussten). Daraus schafft unser Unbewusstes etwas Drittes, Irrationales – und das ist das Kind mit der wundersamen Geburt. Der Legende nach ist übrigens die Geburt Gautama Buddhas nicht weniger wundersam als die von Jesus Christus.

Wir finden zunächst ein gefährdetes (und in anderen Mythen sogar verlassenes) Kind. Es steht zwischen dem Unbewussten, das unser (aus der Entwicklungsgeschichte noch ziemlich junges) Ich wieder in seine Nacht zu verschlingen droht und dem Bewusstsein (für das es übrigens nur Dualität – schwarz und weiß – gibt). Das Kind aber ist aufgrund seiner Zwischenstellung ein „Drittes“, noch dazu entstanden aus dem Unbewussten, und damit für das Bewusstsein dann ganz und gar irrational und bedrohlich.

Das Kind hält dabei wacker sein Banner hoch, denn seine Aufgabe ist die des Kulturbringers, für das das lodernde „Feuer“ des roten Banners (und der roten Feder) ein archaisches Symbol ist. Das Bewusstsein muss sich weiter entwickeln und wir sollten dabei in gewisser Weise wieder wie die Kinder werden.

Ganz schon abgefahren, oder?

Möglicherweise ist diese tiefenpsychologische Sicht arg weit hergeholt. Kein Beweis, aber ein gewisser Hinweis auf das archetypische Geschehen im Hintergrund mag allerdings sein, dass die Szenerie der Karte bei spontaner Betrachtung auf uns ganz überraschend „normal“ wirkt: Immerhin sitzt da ein Kleinstkind nackt mit einem riesigen Banner auf einem Pferd vor einer ins gigantische vergrößerten Sonne. Ja aber hallo, geht’s denn noch? Wie würden Sie reagieren, wenn Sie so etwas in Ihrem Garten vor dem Sonnenblumen-Beet sehen würden? Ich zumindest würde vermutlich panisch Rettungsdienst, Feuerwehr, Polizei und Jugendamt verständigen und zusehen, dass dem armen Kind nichts passiert.

Stattdessen wirkt die Karte sehr fröhlich und optimistisch auf uns. Also ist es Pamela Colman Smith mal wieder gelungen, tiefere Schichten in uns ohne Umweg über unseren unzuverlässigen Verstand anzusprechen. Und wir scheinen spontan zu verstehen, dass das alles seine Richtigkeit hat. Was für eine bemerkenswerte Künstlerin! An ihrem Tarot hat sie leider nur lächerlich wenig verdient, und am Ende ist sie verschuldet und arm gestorben. Dabei hat sie DEN Tarot geschaffen, den nun wirklich JEDER kennt und der zudem Vorbild für zahllose mehr oder (fast immer) weniger inspirierte Klone war.

Aber zurück zu unserer Karte. Was sehen wir auf der „Bühne“ dieser Karte?

Ein blauer, wolkenloser Himmel mit einer übergroßen Sonne, darunter eine graue Mauer hinter der einige Sonnenblumen blühen, der Boden ist nicht zu sehen. Im Vergleich zu vielen anderen Karten wirkt die Szenerie relativ „flach“ und wenig räumlich gestaltet. Die Sonne trägt ein Gesicht mit neutraler Mimik und sendet 11 gerade sowie 10 gewellte Strahlen aus. Und dann gibt es noch einen „verunglückten“ halben gewellten Strahl, der aber offensichtlich nicht mehr komplett rechts neben die „XIX“ gepasst hat. Katz und Goodwin nennen ihn die „OSL“ – die „Oh Sh** Line“ [Marcus Katz, Tali Goodwin: Secrets of the Waite-Smith Tarot, Llewellyn, 2015].

Die 21 (oder doch 22?) Sonnenstrahlen erinnern uns an die Anzahl der großen Arkanen: Mit dem Narren (Null) sind es 22, ohne ihn 21. So ist das neunzehnte Arkanum so etwas wie die vorweg genommene Vollendung: Nach mir kommt nichts Entscheidendes mehr, ich enthalte bereits die Quintessenz der großen Arkanen. (Tatsächlich tun sich insbesondere die Anhänger der Theorie der „Heldenreise“ in den großen Arkanen regelmäßig schwer, für die beiden noch folgenden Karten einen auch nur halbwegs glaubhaften „Plot“ zu bestimmen – nach der Sonne passiert eigentlich nichts wirklich Neues mehr.)

Vor der Mauer befindet sich ein helles Pferd, auf dem ohne Sattel ein nacktes Kind sitzt – mit ausgebreiteten Armen und mit einem langen roten Banner in seiner linken Hand. Das Kind trägt eine Rote Feder auf dem Kopf, sowie einen Blumenkranz mit 6 „Mini-Sonnenblumen“ im blonden Haar. Ob das Kind ein Mädchen oder ein Junge ist, können wir nicht erkennen. Auch das passt wieder zum eher hermaphroditischen Charakter des oben besprochenen Kind-Archetypus.

Die Karte gibt zunächst eine Menge Rätsel auf, denn so weit weg von früheren Tarots (wie dem Tarot de Marseille, aber auch noch dem Tarot von Oswald Wirth) haben sich Smith und Waite eigentlich nur noch bei den Liebenden gewagt. Die Sonnenblumen sind dabei noch ein recht nahe liegendes Symbol für die Sonne, aber warum wurden die ursprünglich zwei Kinder durch ein einzelnes ersetzt? Und was soll das Pferd? Das rote Banner? Die rote Feder?

Die rote Feder.

Eine rote Feder finden wir in den großen Arkanen noch beim Tod (die in den meisten Tarotbüchern auch gleich als Partnerkarte der Sonne genannt wird), aber auch beim Narren (was, wie wir etwas später sehen werden, noch eine weit interessantere Parallele ist). Bei den kleinen Arkanen finden wir überhaupt keine roten Federn, dafür aber bei einigen Hofkarten: Der Ritter der Schwerter, der Bube der Stäbe und der Ritter der Stäbe tragen ebenfalls rote Federn als Kopfschmuck.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Was mag die Bedeutung dieser Federn sein? Es fällt zunächst auf, dass sämtliche Federn im Tarot von Smith und Waite rot sind – wie auch das Banner, welches das Kind auf der Karte „Die Sonne“ trägt. Damit sehen die Federn, die sich ja auch leicht im Wind bewegen können, alle ein wenig wie Flammen aus und könnten auf das Element Feuer weisen. Daneben sind die Federn aber auch aufgrund ihrer „Feder“-Leichtigkeit ein Symbol des Elements Luft. Die alten Ägypter ließen nach ihrem Tod ihre Herzen von der Göttin Maat gegen eine Feder aufwiegen – nur wenn das Herz gerecht und wahr war, wog es weniger als die Feder und der Verstorbene konnte ins friedvolle Jenseits eintreten. Maat selbst trug übrigens eine Straußenfeder auf dem Kopf.

Sehen wir uns die Form der Feder an: aufrecht bei der Sonne, schlaff herab hängend beim Tod und waagrecht – also sozusagen in ausgewogener, aber beschwingter Mittelposition – beim Narren. Ein ähnliches „Muster“ können wir bei den drei Hofkarten mit roter Feder erkennen.

Zuviel Aufmerksamkeit für so ein kleines Detail? Vielleicht. Andererseits ist die überdimensionierte Doppelung der Feder durch das rote Banner in der Hand des Kindes schon ein mehr als deutliches Zeichen (eher ein winkender Zaunpfahl), dass es sich um eines der wichtigeren Symbole auf dieser Karte handelt.

Mit dem Tod verbindet die Sonne natürlich noch das Pferd und das Tragen einer Flagge, bzw. eines Banners. Keine dieser „Requisiten“ existiert übrigens im Tarot de Marseille, weder beim Tod noch bei der Sonne. Aber auch mit dem Narren gibt es noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die ausgebreitete Haltung der Hände von Kind und Narr ist sehr ähnlich. Der Narr hat zudem mit seinem Hund ebenfalls ein hilfreiches Tier an seiner Seite. Es scheint fast, als wäre er das älter gewordene Kind aus der „Sonne“, das nun auf eigenen Füßen stehen kann und dessen tierischer Begleiter deshalb etwas kleiner sein darf.

Hinter Mauern.

Interessanterweise findet man im gesamten Tarot von Smith und Waite keine einzige weitere Mauer wie bei der Sonne. Und das ist erstaunlich, denn als erfahrene Theaterfrau war Pamela Colman Smith daran gewöhnt, ihre Requisiten beizeiten in anderen Szenen zu recyceln. Zahllose so entstandene Parallelen zwischen den Karten belegen das. Es scheint also, dass die Mauer ganz substanziell für die Karte „Die Sonne“ ist.

Andererseits, Requisiten werden auch im Theater oft übermalt – in diesem Fall müssen wir vielleicht nur mit etwas mehr Phantasie suchen? Bei den großen Arkanen fallen mir die Hohepriesterin und Gerechtigkeit ins Auge: An Stelle einer Mauer finden wir bei ihnen Vorhänge. Bei den kleinen Arkanen ist es die Hecke beim As der Münzen, heckenartige Weinstöcke bei der 9 der Münzen und schließlich das den Rest der Welt abschottende bodenlange Tischtuch bei der 9 der Kelche.

Ganz banal kann eine Mauer bedeuten: Das Kind auf dem Pferd ist eingesperrt. Armes Kind. Vielleicht hat es eine symbolische oder reale Grenze überschritten? Oder es befindet sich in einem vor der Außenwelt geschützten Raum?

Möglicherweise ist es aber auch ausgesperrt (oder getrennt) von all dem, was hinter der Mauer liegt. Und da könnte eine ganze Menge liegen. Wir werden das nachher noch näher betrachten.

Gerade und krumme Sonnenstrahlen.

Die Sonne sendet 11 gerade Strahlen aus. Und 10 „krumme“ oder gewellte. Nein, Moment, da ist noch dieser halbe Strahl, der nicht mehr ganz neben die römische XIX gepasst hat (Sie erinnern sich, die „Oh sh** Line“). Wir können also annehmen, dass ursprünglich 11 gerade und 11 gewellte Strahlen geplant waren, eine perfekte Balance, vielleicht aus „männlichen“ und „weiblichen“ Anteilen wie manche Tarot-Bücher wissen wollen oder aus ganz anderen wohl balancierten Gegensätzen (Bewusstem und Unbewusstem zum Beispiel…). Aber wir finden wieder eine Balance vor und die sehr wahrscheinlich unabsichtliche Störung der Balance durch den unvollendeten 11. gewellten Sonnenstrahl zeigt uns, dass diese Balance tatsächlich sehr leicht verletzbar ist. Nicht nur für das Kind, das ohne Sattel auf dem Pferd balancieren muss, sondern wohl auch für Pamela Colman Smith, die ihre Sonnenstrahlen ausbalancieren wollte.

Die handwerkliche Schöpfung der Karte spiegelt sozusagen ihre inhaltliche Ebene.

Einzug nach Jerusalem.

Für die Katholiken Waite und Smith war die Symbolik des Palmsonntags – des Einzugs von Jesus nach Jerusalem auf dem Rücken eines Esels sicher ein vertrautes Bild. Mit dem Palmsonntag beginnt die Passionsgeschichte, die eine Woche später zur Kreuzigung auf Golgatha führen wird. In der katholischen Kirche ist rot die liturgische Farbe des Palmsonntags – als Farbe des Blutes, des Feuers und des heiligen Geistes. Auch der traditionelle Hymnus zum Palmsonntag wirft ein höchst treffendes Licht auf das Bild:

„Des Königs Fahne schwebt empor,
Es glänzt des Kreuzes Bild hervor,
An dem den Tod das Leben starb,
Und Leben durch den Tod erwarb.“
(Hymnus Vexilla Regis)

Nicht nur die rätselhafte Verwendung einer (roten!) Fahne in der Hand des Kindes findet hier eine Erklärung, auch die ausgebreiteten Arme des Kindes auf dem Pferd erhalten damit eine weitere Bedeutungsebene: Neben der entwaffnenden Offenheit der Geste auf rein körpersprachlicher Ebene erahnen wir aus dem Zusammenhang der Gesamtsymbolik bereits einen Vorboten der Kreuzigung aus der christlichen Passionsgeschichte. Und der Blumenkranz auf dem Kopf ergibt bei näherer Betrachtung einen recht passablen Heiligenschein.  Lediglich die Jünger, die den Weg nach Jerusalem gesäumt hatten, sind hier durch bescheidene Sonnenblumen ersetzt. Dafür weisen ihre Blüten nicht wie üblich zur Sonne am Himmel (die sich ja hinter ihnen befindet), sondern sind dem Kind auf dem Pferd zugewandt, das somit – ganz im Sinne des Kind-Archetypus – die Position der Sonne selbst übernommen hat.

Den Archetypus des die Welt erlösenden Kindes finden wir im Christentum ebenso wie in anderen Weltreligionen, wenn auch in der Karte „Die Sonne“ die katholische Symbolik sehr weit transformiert wurde.

Das im Hymnus genannte Motiv der Auferstehung vom Tod finden wir folgerichtig bereits in der nächsten Karte „Gericht“ ganz explizit ausgestaltet.

Noch einmal der Kind-Archetypus: Kleiner als klein, größer als groß.

Ein Kind ist zunächst einmal klein und schwach, in archetypischer Form sogar noch viel weniger als das: Unter wundersamen Umständen  auf die Welt gekommen ist es hilflos ausgesetzt in eine es gefährdende Welt (man denke dabei im Christentum z.B. an Herodes).

In fast allen Mythen, die den Kindarchetypus als Ursprung haben, finden wir die wundersame Geburt, oft auch in Form einer jungfräulichen Geburt. Warum? Es geht ja gar nicht um irgend ein reales biologisches Kind, sondern um eine „psychische“ Geburt: Das Selbst entsteht, und eines seiner auffälligsten Merkmale ist die schmerzhaften Trennung von der Welt. Jetzt ergibt auch die Mauer endlich Sinn: Die Mauer trennt das Selbst vom Universum und ist somit der entscheidende Faktor für die weitere Entwicklung. Wären wir eins mit dem Universum (was wir auf einer metaphysischen Ebene definitiv sind, aber eben nicht auf der psychologischen!), dann würden wir uns kaum zu weiterem Bewusstsein entwickeln.

Die spätere Entwicklung des Kindes zum Helden oder Erlöser ist ebenfalls ein psychischer Vorgang, nämlich die Geschichte dessen, was C. G. Jung Individuation genannt hat, unsere Entwicklung zu dem, was tatsächlich (und noch unbewusst) in uns ist und was uns nicht von außen „nahe gelegt“ wird. Ein Prozess zunehmender Bewusstwerdung.

So ist auch das Licht der Sonne ein Symbol für das Bewusstsein (und die Dunkelheit immer eines für das Unbewusste), die Heldentat des Kindes wird nun darin bestehen, Licht zu bringen und zuvor unbewusste Inhalte in unsere Psyche zu integrieren. Die Kreis-Scheibe der Sonne repräsentiert dabei die Ganzheit, die im Zuge der Individuation angestrebt wird.

Das Pferd, auf dessen Rücken das Kind reitet ist als Tier traditionell ein Symbol des Unbewussten. Unser Kind bekämpft nicht das Unbewusste, sondern hat es sich zum Verbündeten gemacht und wird von ihm unterstützt. Es muss allerdings die Balance halten, einen festen Sattel gibt es nicht. Es wird entsprechend behutsam handeln müssen, um das Pferd nicht zu überfordern. Oder weniger sinnbildlich: Unbewusste Inhalte werden nicht ohne Widerstände (uns auch nicht ohne Gefahren für uns) bewusst werden, wir müssen dabei sehr achtsam vorgehen, um nicht die Balance zu verlieren.

Nebenbemerkung: Freilich wissen wir heute, dass das Bewusstsein von höheren Tieren (wie eben vom Pferd, aber auch von Hunden, Delphinen, Walen usw.) unserem eigenen menschlichen Bewusstsein sehr viel ähnlicher ist, als unser traditionelles Unwissen über unsere Mitgeschöpfe das jemals einräumen wollte. Unterschiede im Bewusstsein von Mensch und Tieren bestehen zweifellos, sie sind aber eher gradueller Natur, die Grenzen sind durchaus unscharf. Das sind aber Erkenntnisse, die Waite und Smith so nicht zur Verfügung standen und so repräsentiert das Tier eben unser Unbewusstes.

Jung spricht beim Kindarchetypus auch von einer „werdenden Ganzheit„, gespeist aus dem Bewusstsein einerseits und dem Unbewussten andererseits. Das ist etwas, das sowohl dem Bewusstsein als auch dem Unbewussten Probleme bereiten wird, denn das Bewusstsein kann sich so eine Vereinigung nicht recht vorstellen und das Unbewusste will es gar nicht (es möchte lieber unbewusst bleiben). Damit dieser Wachstumsprozess gelingen kann, braucht das Kind – mit dem letztlich unsere Selbstverwirklichung gemeint ist – quasi übernatürliche Kräfte: Es kann Wunder vollbringen, es ist unverletzlich bei aller Bedrohtheit, die sich ihm entgegenstellt. Es ist damit zugleich kleiner als klein und größer als groß. [vgl. auch C. G. Jung: Zur Psychologie des Kindarchetypus, 1940 in Edition C. G. Jung Bd. 9/I]

Sonnenkult

In vielen Tarotbüchern findet man Hinweise auf die Bedeutung der Sonne in den antiken Religionen der alten Ägypter, der Sumerer, der Babylonier und der alten Griechen oder im altisländischen Pantheon (bei dem schließlich die Sonne während des Weltuntergangs „Ragnarök“ durch den Wolf Skalli verschlungen wird).

Für die ersten mit Ackerbau beschäftigten Hochkulturen gab es kaum etwas Bedeutenderes als die Sonne, an deren Tages- und Jahreslauf die Tages- und die Jahreszeit abgelesen werden konnte, nein, diese Zeiten wurden durch die Bewegungen der Sonne am Himmel überhaupt erst geschaffen. Keine Ernte ohne Sonne. Keine Zeiten des Hochwassers am Nil ohne Sonne. Kein neuer Tag, wenn die Sonne nicht frühmorgens beschloss, eine weitere Runde am Firmament zu ziehen. Die Sonne war nicht nur irgend ein abstraktes Sinnbild für das Leben, sondern in den alten Regionen ein mächtigster Gott, der nichts weniger als das Leben der Menschen vollständig in der Hand hatte.

Entsprechend hoch dürfen wir auch heute noch die Bedeutung dieser Karte einschätzen. Die Kräfte, die hier in Erscheinung treten, gehören zu den mächtigsten in unserem bekannten Universum. Und damit auch im gar nicht so kleinen Universum unserer Psyche.

Parallelwelten.

Nach all der mystischen und metaphysischen Symbolik möchte ich zum Abschluss noch einen ganz konkreten Blick auf ein Bilddetail werfen.

Anhand der Feder haben wir ja bereits eine Handvoll Karten mit einer gewissen Verwandtschaftsbeziehung kennen gelernt. Neben der roten Feder fällt die markante Geste der weit ausgebreiteten Arme (mit ihrer verborgenen Kreuzsymbolik) ins Auge. Bei der Sonne, beim Narren und bei den Liebenden.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Wirklich ausgebreitete Arme finden wir nur in diesen 3 Bildern. Keine einzige der anderen großen und kleinen Arkanen oder Hofkarten zeigt eine Person mit ausgebreiteten Armen. Und tatsächlich offenbaren die 3 Karten auch die Quintessenz dieser Geste. Blättern Sie ruhig mal durch Ihre Tarot-Karten: Die drei hier gezeigten Karten sind zudem auch noch die einzigen im ganzen Tarot, auf denen eine Sonne gezeigt wird. (Der Mond und die 8 der Kelche zeigen eher eine Sonnenfinsternis als die strahlende Sonne.)

Die Weltoffenheit und Unbekümmertheit des Narren finden wir ebenso bei unserem Kind der Sonnenkarte. Die feurige Feder auf dem Kopf haben wir bereits betrachtet, ebenso das hilfreiche Tier, aber auch die symbolischen Stäbe sollten wir in unsere Betrachtung einbeziehen: Bei der Sonne ist der Stab als Stange des roten Banners versteckt, beim Narren als Wanderstab, an dessen Ende ein Beutel geschnürt ist. Neben den roten „flammenden“ Federn erneut das Element Feuer also, diesmal dezent verborgen.

Eine der psychischen Eigenschaften, die dem Feuer zugeschrieben wird, ist die der Intuition. Für die Aufgaben, die mit der Sonne verbunden sid, bestimmt keine schlechte Idee.

Gleichzeitig ist es eine segnende, eine umarmende Haltung, die wir auch beim Engel der Karte „Die Liebenden“ wiederfinden. Ist es nicht auch eine Geste der Vergebung, gerade beim Sündenfall im Paradies, der so zentral für die Liebenden ist? Und zusammen mit der oben besprochenen Palmsonntags-Symbolik scheint es wie eine Erneuerung des Versprechens zu sein: Euch wird vergeben werden. Die urchristliche Botschaft der Nächstenliebe schimmert hier durch. Und tatsächlich wollen manche (auch z.B. Katz & Goodwin [Secrets of the Waite-Smith Tarot“, Llewellyn, 2015]) auf eben dieser Karte ein klitzekleines „Love“ unter der Signatur von Pamela Colman-Smith erkennen:

Die Sonne: „Love“. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

And now for something completely different: Haben Sie die zu Beginn erwähnte Schnecke schon gefunden? Sie befindet sich auf der 9 der Pentakel…

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Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Karte im Detail: Der Teufel

Der Teufel. Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Der Teufel ist – neben den 8 Schwertern, dem Gehängten und ein paar weiteren Karten – ein Paradebeispiel einer missverstandene Karte.

In einer der grundlegenden Betrachtungen – Umgang mit multiplen Persönlichkeiten – haben wir uns den Teufel bereits etwas näher angesehen. Ich kenne übrigens kaum ein Tarot-Buch, das die Karte „Der Teufel“ wirklich positiv würdigt.

Wir werden in künftigen Beiträgen dieses kleinen Blogs noch sehen, dass auch keine einzige der anderen klassischen „negativen Karten“ tatsächlich eine negative Bedeutung hat: der Gehängte, der Tod, der Teufel, der Turm, 5 der Münzen, die meisten Schwerter-Karten, 5 der Kelche, 7 der Kelche, 7 der Stäbe, 9 der Stäbe, 10 der Stäbe usw. Das alles allerdings vor dem Hintergrund der von mir vorgeschlagenen psychologischen Perspektive auf die Karten. Andere Sichtweisen mögen durchaus auch zu anderen Schlüsse kommen.

Woher stammt der Teufel?

Wenn wir in die vorchristlichen Wurzeln der Idee vom Teufel zurückblicken, dann stoßen wir im Alten Testament (bzw. im Tanach) auf einen ganz anderen Teufel: Als „Satan“ wird da die Rolle eines Anklägers am göttlichen Gerichtshof bezeichnet, einzunehmen jeweils von einem ganz „normalen“ Engel. In der bekannten Geschichte um Hiob wirft ein solcher Satan Gott vor, dieser Hiob sei doch nur deshalb so fromm und Gott ergeben, weil es ihm – dank der Gunst Gottes – so gut gehe. In Folge beauftragt der solchermaßen herausgeforderte Gott seinen Satan also, den armen Hiob schwer zu plagen: Hiob verliert seinen gesamten Besitz, dann seine Familie und schließlich seine Gesundheit. Am Ende, nach einigen Irrungen und Wirrungen ist bewiesen, dass Hiob auch in dieser misslichen Situation Gott noch immer ergeben bleibt. Interessant dabei ist die Rolle des Satans: Er bekommt von Gott ganz genaue Anweisungen, was er zu tun und zu lassen hat und er befolgt sie auch!

Auch der Gott dieser alttestamentarischen Geschichten ist für uns heute ungewohnt: er ist sehr archaisch, eifersüchtig, oft sogar rachsüchtig und ziemlich brutal, denken Sie nur an die Geschichte mit der Sintflut. Ein „lieber“ Gott war das eher nicht. Eine Abspaltung der zerstörerischen Kräfte fand erst viel später statt – das war dann die „Geburtsstunde“ der Vorstellung vom Teufel.

Blick über den Tellerrand: In einer speziellen Form des Buddhismus, dem Vajrayana, geht die Integration des Schattens in das Göttliche noch sehr viel weiter als bei Hiob: Bei einigen sehr fortgeschrittenen Meditationstechniken werden die drei Geistesgifte Zorn, Begierde und Unwissenheit sogar zur Erlangung der Erleuchtung eingesetzt.

Der Satan scheint ansonsten ursprünglich gar nicht das abgrundtief Böse gewesen zu sein, sondern hatte eine sozusagen dialektische Funktion inne, die man heute noch im „Advocatus Diaboli“ findet, also jemandem, der die bestehenden Grundsätze hinterfragt und als Diabolos (griechisch: „Durcheinanderwerfer“) frech die Dinge in Frage und auf den Kopf stellen darf.

C. G. Jung hat darauf hingewiesen, dass wir einen Nachklang dieser alttestamentarischen Ambivalenz noch im Vaterunser finden: „Und führe uns nicht in Versuchung“ passt wohl eher zum großen Versucher, dem Teufel [vgl. Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen, Edition C. G. Jung, Patmos, Bd. 9/I].

Manche der moderneren Aspekte des Teufels entstammen auch aus „Marketing-Maßnahmen“ der frühen alttestamentarischen Religion gegen konkurrierende lokale Gottheiten – wo z.B. ein an sich harmloser Wetter- und Fruchtbarkeitsgott Baal zu Beelzebub, dem Herrn der Fliegen umgedeutet wurde.

Tugenden und Sünden im Tarot (und warum der Teufel auch da nicht für „das Böse“ steht)

Wir haben bereits in den Grundlagen-Kapiteln gesehen, dass es eigene Karten für die vier Kardinalstugenden gibt (Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit / Kraft und Weisheit / Eremit) . Wenn nun der Teufel im Tarot eine Darstellung „des Bösen“ ist, müssten dann nicht zumindest irgendwo Abbildungen für die sieben Todsünden (oder Haupt-Laster) zu erwarten sein? Wer es nicht mehr weiß: Wir sprechen dabei von Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Von der reinen Bildsprache ist es schwer, auch nur eine einzige der Todsünden in der Karte „der Teufel“ (oder in einer der anderen großen Arkanen) auszumachen. Der Tarot scheint sich irgendwie mehr um die Tugenden zu kümmern…

Der Tarot stellt damit weniger die Gesamtheit alles möglichen Lebens und Erlebens dar, als vielmehr einen spezifischen Pfad des inneren Wachstums, des Reifens und – so hätte C. G. Jung es genannt – der Individuation. Das erschwert freilich das „Wahrsagen“ mit den Karten, weil es aus dieser Sicht heraus nicht wirklich Material für die Darstellung der mannigfaltigen Gefahren und Misslichkeiten des Lebens gibt, aber es fördert dafür einen Zugang zu den Karten der da lautet: „Hey, schau Dir mal meinen Rat näher an, vielleicht ist das ja genau der passende nächste Entwicklungsschritt für Dich?“

Der Teufel als Schatten

In der Analytischen Psychologie C. G. Jungs ist der Schatten ein Teil unserer Psyche, der neben unserer aufpolierten, sozial angepassten und manchmal auch inszenierten „Persona“ diejenigen psychischen Inhalte von uns enthält, die wir ablehnen, die wir an uns selbst peinlich finden und die wie vielleicht sogar fürchten.

Darunter fallen auch verdrängte Wünsche und gescheiterte (Lebens-)Träume. Passt da nicht gut, dass der Teufel seine Fackel nach unten hält, hin zur „Unterwelt“, wo es noch dunkler ist? Der gruseligste Moment in der Geisterbahn ist der, wenn ein Licht auf eines der Monster fällt. Und hier stehen unsere eigenen beiden Monster, die vielleicht schon Jahrzehnte im Dunkel der Verdrängung angekettet sind. Das müssen gar nicht „böse“ oder „sündige“ Schattenseiten sein. Im Gegenteil, oft sind das ganz harmlose Dinge. Ein verdrängter Wunsch nach Emotionalität vielleicht bei einem mit sich und seinen Mitarbeitern allzu harten Manager, die Mutter von 4 Kindern, die sich nie ihren Wunsch nach etwas Ruhe und Zeit für sich selbst eingestehen konnte, der unerfüllte Traum, ein bestimmtes Studium zu ergreifen und vieles mehr.

Und freilich gibt es auch Schatten-Inhalte, bei denen wir gut daran tun, sie abzulehnen.

Es wird also nicht darum gehen, einfach sämtliche Schatten-Inhalte in uns irgendwie auszuleben, nach dem Motto: „lass doch mal die Sau raus“. Aber anschauen sollten wir sie uns durchaus (soweit sie uns eben bewusst zugänglich sind) und dabei müssen wir oft akzeptieren, dass wir leider gar nicht so perfekt sind, wie wir uns das vielleicht wünschen würden.

Mit der Frage der bewussten Zugänglichkeit berühren wir die nächste Eigenschaft des Schattens: größere Teile von ihm sind uns nicht bewusst. Wir können Hinweise auf sie zum Beispiel dadurch gewinnen, wenn wir bestimmte Menschen und deren Eigenschaften ganz spontan und ohne offensichtlichen persönlichen Bezug ablehnen, verabscheuen oder gar hassen. Wenn ich stets friedfertig auftrete (und mich selbst dabei auch als unbedingt friedfertigen Menschen wahrnehme!), aber sehr heftig auf etwas weniger friedfertige Zeitgenossen reagiere, dann sollte ich näher hinsehen, denn mein Schatten könnte in einer verdrängten Aggressivität bestehen. Das gilt ganz besonders dann, wenn mir diese Zeitgenossen persönlich rein gar nichts getan haben.

Je mehr man nun den eigenen Schatten verdrängt und abspaltet, desto wahrscheinlicher wird er sich irgendwo bemerkbar machen. Sehr häufig fangen wir dann an, den Schatten auf andere zu projizieren. Wenn wir uns dabei in der Politik umsehen, dann kommt es manchmal zu Gruppierungen und Parteien, die ganz massiv Feindbilder aufbauen, denen dann alle möglichen Schatten-Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Feindbilder betreffen freilich nicht mehr einzelne verhasste Personen wie beim individuellen Schatten, sondern ganze Bevölkerungsgruppen.

Nehmen wir nur Hitlers Verbrechensregime, das die halbe Welt in gezieltem Machtkalkül mit millionenfachem Mord, Krieg und Elend überzogen hat, das aber den Juden nichts weniger als eine Weltverschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft angedichtet hatte. Was für eine monströse Schattenprojektion!

Im politischen Raum betreten wir übrigens die Ebene von kollektiven Schatten, die eine größere Gruppe von Menschen vereint und die somit die Projektionen umso gefährlicher macht, weil sie dann mit einem „wir“ verbunden sind, das im Rausch eines Gemeinschaftserlebens individuelle Skrupel sehr leicht einmal beiseite schiebt.

Wenn Sie heute irgendwo (gerne in sozialen Medien) Hassparolen lesen, dann beruhen die meisten davon auf Projektionen des eigenen (oder eines kollektiven) Schattens auf andere.

Zurück zur Karte: Das Bühnenbild

Wir erkennen zunächst einen schwarzen Hintergrund. Es ist tiefste Nacht oder wir befinden uns in einem fensterlosen Raum. Die „Bühne“ ist ansonsten ziemlich übersichtlich. Auf einem mit nur wenigen Strichen skizzierten Boden steht ein schwarzer Quader, an dem zwei Ketten befestigt sind. Abgesehen von den Figuren selbst war’s das, dominant ist die Farbe Schwarz, gefolgt von Schattierungen der Hautfarbe sowie grau.

Drei Figuren sind aufgestellt: Zwei davon sind an den Quader gekettet, ansonsten sieht man noch den Teufel selbst, der auf dem Quader hockt und mit den Händen eine Geste „wie oben so unten“ macht, die an den Magier, aber auch (deutlich weniger ausgeprägt) an die Gerechtigkeit erinnert. Noch ein interessantes Detail: Der Teufel hält seine Fackel nach unten, der Magier seinen Stab nach oben, ganz ähnlich wie viele Darstellungen von Cautopates und Cautes aus dem altpersischen Kult um den Sonnengott Mithras, die für den Herbstpunkt und den Frühlingspunkt im Jahreslauf stehen.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Damit werden wir uns noch beschäftigen müssen. Eine weitere „klassische“ Parallele ist freilich die Karte „Die Liebenden“, die schon aufgrund der numerologischen Verwandtschaft der 15 des Teufels mit der 6 der Liebenden nahe liegt (die Quersumme von 15 ist die 6). Hier ist zwar die Handgeste eine andere, aber wir finden dafür eine sehr ähnliche Aufteilung des „Personals“ in eine große, dominante und beflügelte Figur (Teufel, bzw. Erzengel Raphael) und davor zwei kleinere (das angekettete Paar, bzw. Adam und Eva).

Aber auch der Hierophant hat die gleiche Bildstruktur: der prominente Priester (mit Segnungsgeste der einen Hand und liturgischem „Instrument“ in der anderen) und seine beiden etwas verkleinerten Adepten im Vordergrund. An der Stelle der Flügel sehen wir zwei massive graue Säulen.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Bereits im Grundlagenkapitel zum „Umgang mit multiplen Persönlichkeiten“ hatten wir gesehen, dass es sich lohnt, verschiedene Perspektiven bei Karten einzunehmen, auf denen mehrere Figuren dargestellt werden. Letztlich können wir alles – bis hin zum schwarzen Steinblock, an den die kleinen Unterteufelchen gekettet sind – als symbolische Darstellung unseres psychischen Geschehens werten.

Körpersprache im Detail

Werfen wir doch einen Blick auf die Körpersprache unserer Akteure: Neben der plakativen Geste des Teufels gibt es wie ich finde noch eine weitere interessante Geste: Das männliche Unterteufelchen stemmt eine Hand in die Hüfte und streckt die andere Hand mit offener Handfläche in Richtung der linken Bildhälfte, also hin zum weiblichen Unterteufelchen. Der Kopf ist dabei leicht geneigt und zur weiblichen Figur hin gedreht.

Der Teufel – Detail Blick und Geste der kleinen Figuren. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

In einem ganz anderen Kontext würde man sagen: „ah, da fordert jemand seine Dame zum Tanz auf.“ Die nach oben offene Hand ist eine Bitte, die andere Person möge doch ihre Hand in die Seine legen und der in der Hüfte gestützte Arm soll das unterstreichen (und das vielleicht fehlende Selbstbewusstsein des Bittenden etwas aufpeppen). Auch der Blick passt dazu: Man(n) will nicht aufdringlich sein und senkt den Kopf und die Augen, so wie wir alle das regelmäßig im Fahrstuhl tun, um nur ja nicht aggressiv auf die anderen zu wirken.

Die Lady indes scheint noch zu zögern, ihre Haltung zeigt abgesehen vom Blickkontakt noch keine klare Zuwendung zu ihrem männlichen Gegenüber. Währenddessen brennt ihm schon die Rute, entfacht durch die Fackel des Teufels hat er offensichtlich bereits „Feuer untern Hintern“.

Nachtkarten im Tarot

Lassen wir die handelnden Personen einen Moment stehen und wenden wir uns nochmal dem Hintergrund der „Bühne“ auf dieser Karte zu. Außer dem Quader erkennen wir gar nichts, es ist tiefdunkel. Selbst wenn außerhalb unserer sichtbaren Kartenwelt die Sonne scheinen würde: hier ist es finsterste Nacht. Es gibt gar nicht so viele dieser Nachtkarten im Tarot von Smith und Waite: Bei den großen Arkanen ist es nur noch der Turm. Selbst der Tod und der Eremit (der immerhin einen Stern in seiner Lampe trägt) wandeln eher im Zwielicht und auch der Mond hat einen erstaunlich hellen Himmel hinter sich.

Keine einzige Hofkarte hat eine nächtliche Szenerie und auch bei den kleinen Arkanen sind es lediglich die 9 und 10 der Schwerter (letztere zeigt an Stelle eines echten Nachthimmels einen pechschwarzen Wolkenhimmel, der aber denselben Zweck erfüllt) sowie die 5 der Münzen. Aus psychologischer Sicht gehört auch noch die 3 der Münzen in diese Reihe: Die Szene spielt zwar vordergründig am Tage, hinter dem Torbogen befindet sich jedoch ein Gewölbe, voll mit schwarzer Nacht.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Das sind nun alle unsere „Kinder der Nacht“. 5 davon gehören zu den gefürchtetsten Karten bei so manchem „Wahrsage-Kartenleger“ (gerne auch online oder per Telefon). Aus psychologischer Sicht versuchen alle diese Karten, einen Blick auf das Unbewusste zu ermöglichen. Da das Unbewusste aber prinzipiell nicht für uns direkt erfahrbar ist, bleibt es finster und alles was wir erkennen sind die indirekten Spuren und Wirkungen des Unbewussten.

Das Unbewusste wird übrigens nicht nur durch die Schwärze der Nacht symbolisiert, sondern wir sollten auch auf alle Karten achten, die größere Gewässer zeigen: Die Hohepriesterin, deren Gewand sogar selbst zum Gewässer wird, die Herrscherin, bei der ein Gewässer direkt aus dem Wald (einem weiteren Symbol des Unbewussten!) fließt, der Wagen, hinter dem ein Fluss fließt, der Tod – ebenfalls mit einem Fluss hinter sich, die Mäßigkeit, die ihren Fuß ins Wasser steckt, der Stern, der Wasser vergießt, aber ansonsten sogar auf ihm stehen kann, der Mond, bei dem ein Krebs aus dem Wasser steigt und sich zu Hund und Wolf gesellt, und schließlich das Gericht, bei dem die ganze Welt im Wasser versunken zu sein scheint, auf dessen Oberfläche die offenen Särge der Auferstandenen schwimmen.

Und das sind nur die großen Arkanen. Die kleinen dürfen Sie jetzt gerne selbst nach Wasserstellen absuchen.

Symbolik

Der Teufel ist von Pamela Colman Smith mit einer Reihe von interessanten Symbolen ausgestattet worden. Die Fledermausflügel unterscheiden ihn deutlich von den anderen drei Engeln im Tarot (Die Liebenden, Mäßigkeit und Gericht). Interessanterweise sind Fledermäuse Tiere, die in Höhlen leben, deren Finsternis wie wir gesehen haben ein altes Symbol für das Unbewusste ist.

Tod – Umgekehrtes Pentagramm im Banner. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Das umgekehrte Pentagramm ⛧ kennt jeder als Symbol der schwarzen Magie und Teufelsanbetung. Die 5 Ecken stehen für Hörner, Ohren und Ziegenbart des Teufels. Über die Symbolik des Pentagramms ließe sich alleine schon ein eigener Blog füllen. Mit einer Spitze nach oben ist es ein magisches Symbol, das – umschlossen von einem Kreis – die Pentakel im Tarot von Smith und Waite ziert. Die einzige Karte der großen Arkanen mit einem Pentakel ist der Magier, was zu seiner Funktion als Gegenpol des Teufels passt. Ein umgekehrtes Pentagramm findet man allerdings nur beim Teufel. Doch halt: Wenn wir die schwarze Flagge der Karte „Tod“ untersuchen, dann steckt darin ebenfalls ein umgekehrtes Pentagramm. „Tod und Teufel“ sind schon immer nahe beisammen gewesen. Während das Hauptthema der Karte „Tod“ das Loslassen ist, so scheint es beim „Teufel“ das Zulassen (von unerwünschten Anteilen unserer Psyche) zu sein.

Die Hörner und der Ziegenbart des Teufels sind übrigens die Hörner und der Bart des Hirtengottes Pan – neben Baal einer weiteren (ebenfalls ganz harmlosen) Gottheit, die vom Christentum zum Teufel umgedeutet wurde. Nach einer Darstellung ist Pan der Sohn von Hermes, dem Götterboten, Seelenführer und Gott der Magier.

Ok, wagen wir eine (wie immer vorläufige) Interpretation?

Das war zugegebenermaßen ein recht wilder Ritt durch Psychologie und Weltgeschichte. Vom Mithraskult zu alten und neuen Nazis und anderen Hatern. Von Baal zum kollektiven Unbewußten C. G. Jungs mit Aufforderung zum Tanz durch finsterste Nacht. Assoziationen „auf Teufel komm raus“, sozusagen.

Eine wichtige Botschaft der Karte scheint mir zu sein: Wir werden unseren Schatten nicht los. Er ist da, ziemlich mächtig ist er sogar, er dominiert alleine schon aufgrund seiner physischen Größe die beiden menschlicheren Figuren im Vordergrund. Und wir sind an ihn angekettet. Oder: Perspektivwechsel – nehmen wir die Position der großen Figur auf der Karte ein. Wenn wir uns besonders stark machen und ganz grimmig versuchen, unsere inneren Schatten im Zaum zu halten: die sind immer noch da, weil sie an uns angekettet sind. Egal wie wir es betrachten: Wir sollten uns damit abfinden, dass unser Schatten existiert. Und es wäre auch gar nicht gesund, wenn wir den Schatten allzu weit von uns wegschieben würden. Als Projektion auf andere, „fremde“ etwa.

Die Fackel des großen Teufels könnte übrigens etwas Licht in die Sammlung unserer Peinlichkeiten (=Schatten) bringen. Und gezielt zum Einsatz gebracht, kann unser Schatten uns „Feuer unterm Hintern“ machen, so wie der kleinen Figur rechts auf der Karte.

Wie bei der Geschichte um Hiob ist der Teufel derjenige in uns, der uns die wirklich unangenehmen Fragen im Leben stellt. Nämlich die, die wir ganz bestimmt nicht hören wollen. Er hinterfragt, ob so manches „Arrangement“ unserer Bequemlichkeit uns nicht in Wirklichkeit an einen starren Stein angekettet hat. Beruflich? Beziehung? Die Stagnation der persönlichen Entwicklung? Schon alles erreicht? War das alles im Leben?

Das Paar der kleinen „Unterteufel“ stellt zweifellos eine Dualität (männlich – weiblich) dar. Ein großer Teil des Tarots (und aller mir bekannten spirituellen Traditionen) beschäftigt sich mit der Überwindung der Dualität AN SICH. Der Schatten und die nach außen dargestellte Persona sind eine solche Dualität (ebenso wie „ich“ gegen „der Rest des unendlichen Universums“, usw.) Ist es da nicht bemerkenswert, dass ein Teil dieser Dualität dem anderen die Hand reicht? „Lass uns zusammen kommen.“ (Willst Du mit mir gehen? Ja / Nein / Vielleicht?)

Der Schatten gehört zu uns (und nicht zu irgend jemandem da draußen). Und die Parallelität zum Magier zeigt, dass wir es hier mit einer der ganz großen Kräfte zu tun haben. Wenn dem Magier sämtliche vier Elemente zu Diensten sind, dann gilt das für den Schatten mindestens ebenso. „Wie unten, so oben“: Das, was wir verdrängen und nicht als zu uns zugehörig akzeptieren (=“unten“) determiniert zu einem guten Teil unsere nach außen getragene „Persona“ (unsere gesellschaftliche Maske =“oben“). Nicht zuletzt heißt der Magier in früheren Tarots auch „Le Bateleur“, der Gaukler (oder gar Schmierenkomödiant), der nach außen eine Show abzieht, so wie wir unsere Persona nach außen darstellen. Im Gegensatz zum Magier hält der Teufel sein „Werkzeug“ – die Fackel – mit der linken Hand, die eher mit der emotionalen rechten Gehirnhälfte verbunden ist als die rechte, „rationale“ Hand des Magiers.

Bei der Betrachtung des Magiers sollten wir übrigens unbedingt den Teufel als Schatten des Magiers in Betracht ziehen.

Wie bei der Karte „Gerechtigkeit“ geht es auch beim Teufel um eine Balance. Die zu balancierenden Figuren sehen wir im Vordergrund: Ein Paar, das die Dualität „per se“ darstellt und dessen Gestik zeigt, dass es dennoch zur Vereinigung strebt und dabei sogar über den zentralen Quader aneinander gekettet ist.

Die klassische Parallele zur Karte „Die Liebenden“ ist schon oft diskutiert worden. Meist leider im Sinne von Gegensätzen der beiden Karten – wir neigen halt doch zum dualistischen Denken, wo immer uns das möglich ist. Was bedeutet nun diese ganz offensichtlich bewusst dargestellte Parallele? Die Karte „Die Liebenden“ handelt zu einem großen Teil vom freien Willen, auch von Herzensentscheidungen, bei älteren Tarots hat der Jüngling noch die Wahl zwischen zwei attraktiven Damen. Das ist bei Smith und Waite sehr clever durch die paradiesische Szene des Verzehrs einer Frucht des Baums der Erkenntnis ersetzt worden, Schlange inklusive. Eigentlich ist das sogar ein noch stärkeres Bild einer freien Willensentscheidung als die Wahl zwischen zwei Ladies, mit einem höchst interessanten zusätzlichen Aspekt:

Die Liebenden: Baum der Erkenntnis und Baum des Lebens. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Die Frucht, die gepflückt wurde, war die Erkenntnis von Gut und Böse. Der Preis dafür war bekanntlich enorm: Wir konnten nicht mehr vom „Baum des Lebens“ kosten, der uns ein ewiges Leben verschafft hätte. So jedenfalls die Geschichte vom Sündenfall, der bekanntlich zur Vertreibung aus dem Paradies führte.

Das führt uns unmittelbar zur Frage: Warum zum Teufel sollte jemand so bescheuert sein, das Paradies und das ewige Leben zu verspielen?

Der Grund liegt darin, dass es erst die Erkenntnis von Gut und Böse ist, die uns einen sinnvollen Umgang mit dem Schatten ermöglicht! Ohne einen soliden moralischen Kompass können wir nie sicher sein, ob es sich um die anfangs skizzierten harmlosen Dinge handelt oder ob wir mit dem Ausleben unserer Schattenanteile nicht großen Schaden anrichten. Für uns übrigens nicht weniger als für andere, denn jedes von uns erzeugte Leid wird sich (karmisch und direkt) auch auf uns selbst auswirken.

Vor der Nutzung dieser Kräfte steht noch die erhebliche Hürde, dass uns alles in unserem Schatten unangenehm und peinlich ist. Aber es steckt dafür auch eine enorme Menge an Energie und Lebenskraft in diesen Inhalten unserer Psyche. Wenn es uns nun gelingt, diejenigen Schattenanteile zu leben, die tatsächlich unseren „moralischen TÜV“ geschafft haben, dann können wir aufgrund der darin liegenden Lebensenergie sehr viel gewinnen. Die anderen (ohne TÜV) sollten wir kennen und als Teil von uns selbst akzeptieren. Wir sind nicht perfekt.

Das klingt viel trivialer, als es in Wirklichkeit ist. Die Schatten sind definitiv nicht immer klar erkennbar und unser moralischer Kompass ist ganz bestimmt nicht davor gefeit, gelegentlich wirr und ziellos zu rotieren. (Vom kollektiven moralischen Kompass mal ganz zu schweigen.)

Letzte Parallele: der Hierophant.

Interessanterweise begegnen nicht wenige Tarot-Leger dem Hierophanten mit einer ordentlichen Portion Skepsis. Ist das nicht eine Karte die für das Establishment, für eine starre und verkrustete Kirche steht? Für Traditionalismus und in die Vergangenheit gerichteten Blick? Blinden Glauben? Gehorsam gegenüber der Institution?

Aber das ist eine arg triviale Sicht auf diese Karte. In älteren Tarots hieß sie „Der Papst“ (und die Hohepriesterin hieß dann „Die Päpstin“), auch noch beim bereits esoterischen Tarot von Oswald Wirth im Jahr 1889. Der Name der Karte wurde dann aber in „Der Hierophant“ geändert.

Einfach so, weil’s schicker klingt?

Der Name Hierophant stammt aus dem Demeter-Kult des antiken Griechenlands. Die Hierophanten waren die Eingeweihten in die damals streng geheimen Mysterien um die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, deren Tochter Persephone vom Unterweltgott Hades geraubt wurde, wieder zurück geholt wurde, aber fortan einen bestimmten Teil des Jahres immer wieder zu Hades zurück kehren muss: Dann vernachlässigt Demeter ihre Pflichten und es wird Winter. Kehrt Persephone zu Mutti zurück: Frühling!

Das ergänzt die Verbindung des Teufels zu einer anderen Karte: Mit dem Magier zusammen bildet er ein Echo auf Cautopates und Cautes aus dem altpersischen Kult um den Sonnengott Mithras, die für den Frühlings- und den Herbstpunkt im Jahreskreis stehen. Nicht umsonst ist der Magier mit Rosen und Lilien umkränzt (sie blühen etwa ab Mai) und nicht umsonst endet der Schweif des weiblichen Unterteufels in einer großen Weintraube (die im Herbst reif ist).

Haben Sie sich nie gefragt, warum dieser Schweif AUSGERECHNET in einer WEINTRAUBE endet?

Die Hierophanten dagegen waren Priester, die um die Mysterien hinter dem Jahreskreislauf und ihren Wendepunkten wussten und die alljährlich die Gläubigen in die Mysterien von Eleusis eingeweiht hatten. Das geschah übrigens über einen Zeitraum von fast zweitausend Jahren, bis der Kult schließlich vom (christlichen) römischen Kaiser Theodosius I. verboten wurde.

Der Teufel steht hier also auch für eine der Kräfte, die den Kreislauf des Werdens und Vergehens antreiben.

Das gilt selbstverständlich nicht nur auf der banalen Ebene der Jahreszeiten mit ihren äußerlichen Naturerscheinungen, auf der fast ebenso banalen Ebene der Übertragung dieses Jahreskreislaufs auf das Werden und Vergehen im menschlichen Leben, sondern auch und ganz besonders auf psychischer Ebene.

Ich möchte das gerne konkret beschreiben: In der Lebensmitte tauchen einige existenzielle Fragen auf, an denen wir resignieren und zerbrechen können, aber an denen wir auch wachsen und uns erfüllen können: Was steckt in uns, das noch werden möchte? Was kann dafür in den Hintergrund treten? Was sind vergeudete Chancen, denen wir noch immer nachtrauern, die wir aber loslassen sollten (übrigens ein Thema der Karte Der Tod, auf dessen Banner wir auch folgerichtig ein dem umgekehrten Pentagramm erstaunlich ähnliches Symbol erkennen).

Wir haben in dieser Lebensmitte bisher viel Disziplin aufgewendet, um unser Leben zu gestalten, eine Familie zu gründen, einen Beruf auszufüllen, unseren Platz in der Gesellschaft zu finden. Jede Disziplin erfordert Verzicht und Opfer, führt zu ungelebtem Leben, vieles davon landet in unserem Schatten. Und gerade zur Bewältigung der zweiten Lebenshälfte scheint mir eine nähere Betrachtung dieser Schatten eine wertvolle Hilfe zu sein. Die Erkundung dessen, was bislang noch zu wenig Platz hatte, kann ein Motor der Erfüllung und Reifung sein.

Zu guter Letzt noch eine Anekdote aus der unbestechlichen Wissenschaft der Mathematik.

Wir lächeln heutzutage müde über den Teufel und die Mythen rund um ihn. Die Zahl des Tieres „666“ hat wahrscheinlich jeder schon einmal auf einem Autokennzeichen gesehen. Banalisiert und säkularisiert, der Teufel als milde anzüglicher Scherz also? Und doch gibt es so etwas mysteriöses wie „Belphegors Primzahl“: Man nehme eine „666“, schreibe links und rechts je 13 (dreizehn!) Nullen und begrenze alles durch Einsen:

1000000000000066600000000000001

Das ist eine Primzahl. Und man kann sie rückwärts wie vorwärts lesen. Es gibt schon merkwürdige Erscheinungen in der Unendlichkeit der Zahlentheorie.

Die 666 erhält man auch, wenn man die ersten 7 (sieben!) Primzahlen jeweils mit sich selbst multipliziert und addiert:

2²+3²+5²+7²+11²+13²+17² = 4+9+25+49+121+169+289 = 666

Schon etwas … merkwürdig. 😉

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Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Karte im Detail: 8 Schwerter

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Nach all den theoretischen Ausführungen möchte ich nun eine erste Tarotkarte im Detail beleuchten. Üblicherweise wird dabei mit den großen Arkanen begonnen, dann kommen einige Ausführungen über die 4 Farben, die Hofkarten und schließlich die kleinen Arkanen Farbe für Farbe nach ihrer Nummerierung. Ich möchte stattdessen mit der „8 der Schwerter“ beginnen.

Die 8 der Schwerter ist eine hochinteressante Karte, die zudem in fast allen Tarotbüchern (zumindest aus meiner Sicht) falsch beschrieben wird. Da sei jemand in eine missliche Lage geraten, gefesselt und sogar handlungsunfähig. Waite selbst – stets ebenso bemüht nichts komplett Falsches wie keinesfalls die geheim zu haltende „Wahrheit“ zu schreiben – merkt immerhin an, es sei „eher eine Karte vorübergehender Gefangenschaft als auswegloser Fesseln.“ [A. E. Waite: der Bilderschlüssel, Urania, 2005], Banzhaf sieht darin einen „Ausdruck von Hemmungen und Verboten“ [H. Banzhaf: Das Arbeitsbuch zum Tarot, Kailash, 2004], für Schwarz „stehst du dir selber im Weg“ [L. Schwarz: Im Dialog mit den Bildern des Tarot, AGMüller Urania, 2005], Pollack sieht „Gefühle von Hilflosigkeit, Schwäche, Gefangenschaft“ [R. Pollack: Tarot Weisheit, Königsfurt-Urania, 2009], usw.

Wenn man sich aber einmal die Mühe macht, das Bild wirklich und ernsthaft zu betrachten, ist die Frau im roten Gewand nichts weniger als handlungsunfähig oder in misslicher Lage.

Wie geht man bei einer solchen Betrachtung vor? Wenn ich mir eine Tarotkarte näher erschließen will, dann versuche ich zunächst, möglichst viel von der Umgebung, sozusagen dem „Bühnenbild“ zu erfassen, in das Pamela Colman Smith ihre Figur(en) „in Szene“ gesetzt hat. Erstes Ziel ist eine genaue Faktensammlung, Deutungen sollten erst etwas später folgen, wenn wir möglichst viel vom Bild erfasst haben. Wenn mir aus zeichnerischen Gründen unklar ist, was ein bestimmtes Objekt in der Szenerie darstellen soll, dann notiere ich mir meine Mutmaßungen dazu. Wichtig ist, die Fülle des Dargestellten in einem ersten Schritt nach Möglichkeit neutral zu erfassen und sich nicht gleich auf bestimmte Details und deren „Bedeutung“ zu fixieren.

Fangen wir an. Zunächst fällt uns vielleicht der graue Himmel auf, der schon recht viel der Hintergrundfläche einnimmt. Dann gibt es im Hintergrund einen Felsen mit einer Burg. Auch der Felsen und der größte Teil der Burg sind grau. Zusammen mit dem Himmel sind gut 3/4 des Hintergrunds grau. Ein paar Berge sind in weiter Ferne zu erkennen, vor den Bergen sehen wir eine größere Wasserfläche, die bis an den Burgfelsen reicht. Das Meer? Ein See? Oder nur ein breiter Fluss? Der Boden bei der Frau ist beige bis braungrün und ebenfalls von Wasserflächen durchzogen. Das könnte ein Ausläufer des größeren Gewässers sein, eine Wasserlache, ein kleines Rinnsal oder Bächlein, ein Priel im Wattenmeer usw.

Wir befinden uns an einer Küste, weder Sonne noch Mond oder Sterne sind zu sehen, es ist also bedeckt oder dämmerig. Bis hier haben wir übrigens noch nichts interpretiert, sondern nur versucht, das was wir sehen möglichst genau festzuhalten.

Nun zur eigentlichen „dramatischen Szene“:

Eine Frau steht da. Sie trägt ein rotes langes Gewand, ein breites graues Band ist um ihren Körper gewickelt, etwa vom Becken bis an den Brustkorb. Ein ebenfalls graues Band ist vor ihre Augen gebunden. Ihre schwarzen Haare scheinen im Wind zu wehen, auch der Saum des Kleides sieht so aus, als ob ihn der Wind erfasst hätte. Die Haltung der Frau ist aufrecht und gerade, die Schultern sind waagrecht, also weder gesenkt wie ein Opferlamm mit hängenden Schultern noch zum Schutz hochgezogen, lediglich der Kopf ist leicht nach vorne geneigt.

Spätestens hier kommen erste Zweifel an der üblichen Interpretation: Das ist nicht die geknickte oder niedergeschlagene Körperhaltung von jemandem in misslicher Lage! Sehen wir uns noch die Füße an: Ein Mensch ohne Orientierung im unsicheren Gelände hätte die Füße nicht so nahe zusammen, sondern würde versuchen, mit etwas breiterem Auftreten einen sicheren Stand zu halten. Die gesamte Körpersprache sagt eigentlich: Da steht eine Frau mit höchster Konzentration. Auch der nur leicht gesenkte Kopf und die etwas angespannten (aber keinesfalls verkrampft oder ängstlich wirkenden) Gesichtszüge passen dazu.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Einen ähnlichen Gesichtsausdruck kennen wir vom Magier: Auch er hat in größter Konzentration den Kopf leicht nach vorne geneigt und hat einen vergleichbaren Ausdruck um den Mund. Auch er hat schwarze Haare, die vielleicht ebenfalls vom Wind bewegt werden und mit seinem Grübchen am Kinn könnte er beinahe der Bruder unserer Dame der 8 Schwerter sein. Sein Band trägt er freilich nicht mehr über den Augen, sondern auf der Stirn.

Schauen wir uns das Bild weiter an: Auf beiden Seiten der Frau stecken Schwerter im Boden, drei zur von ihr gesehen rechten Seite, die restlichen fünf zu ihrer linken Seite. Auch von den Schwertern lässt sich nicht ableiten, dass die Frau in einer unangenehmen Lage wäre. Die Spitzen stecken in der Erde, es gibt auch keine bedrohlichen weiteren Personen auf der Karte (die Pamela Colman Smith mit Leichtigkeit hätte unterbringen können). Hinter ihr ist eine Lücke zwischen den Schwertern, rechts von ihr ebenfalls, vor ihr und links von ihr auch. Die Frau steht nicht in, sondern ein gutes Stück vor der Reihe der 5 Schwerter an ihrer linken Seite, möglicherweise ist sie durch die Lücke hinter ihr in diese merkwürdige Schwerter-„Formation“ (ein Kreis ist es ja auch nicht) hineingetreten.

A propos getreten: Wo steht sie denn eigentlich? Ein Fuß befindet sich auf dem Boden, der andere im oder auf dem Wasser. Auch das kennen wir schon: Die Mäßigkeit hat ebenfalls einen Fuß auf dem Boden und den anderen im Wasser, der Stern hat einen auf dem Boden und den anderen auf der Oberfläche des Wassers. Wasser (=Kelche) und Erde (=Münzen) sind zwei der vier Elemente im Tarot. Zufall? Jemand, der gerade im Sumpf steckt oder gar versinkt, sieht jedenfalls anders aus als die Dame der 8 Schwerter.

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Gibt es – neben den Füßen – weitere Verbindungen zur Mäßigkeit oder zum Stern? Betrachten wir einmal die Zahlenwerte: Die 8 der Schwerter korrespondiert mit der Zahl 17 des Sterns, deren Quersumme ebenfalls 8 ist. Auch beim Stern stehen die Elemente Erde und Wasser im Zentrum, beide werden durch die nackte Figur mit ihren zwei Karaffen begossen und damit „genährt“. Wir können uns vorstellen, dass unsere Heldin der 8 Schwerter auf einem solcherart genährtem Boden (und Wasser) steht.

Mit der Zahl 8 gibt es noch eine weitere Karte, die wir uns ansehen sollten: Die Gerechtigkeit. Bei Waite ist sie zwar mit einer „11“ nummeriert, beim Rest der Welt aber mit einer 8.

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Fällt Ihnen das Schwert in der Hand der Gerechtigkeit auf? Das rote Gewand? Der rote Vorhang zwischen den (grauen!) Säulen im Hintergrund? Die Gerechtigkeit muss abwägen und nutzt dazu die Kräfte des Schwertes (nämlich das Element Luft und dessen geistige Kräfte). Sie sucht die Balance, die nie nur schwarz oder weiß sein kann, sondern immer eine grau-Schattierung. Ein leises Echo dieser sehr archetypischen Figur finden wir in der Dame der 8 Schwerter, die mit verbundenen Augen wohl ebenfalls eine Balance sucht – zwischen den Elementen Erde und Wasser. Wir kennen übrigens zahllose Darstellungen der Gerechtigkeit, bei denen sie ebenfalls und aus gutem Grund eine Augenbinde trägt.

Die oben bereits genannte Mäßigkeit hat die Nummer 14. Also rein von der Zahl her doch keine Verbindung zur 8 der Schwerter? Sehen wir nochmal hin: Mit unserem schon einmal angewandten „Trick“ der Reduktion einer Zahl über ihre Quersumme landen wir ausgehend von der 14 der Mäßigkeit bei einer 5. Und ebenso viele Schwerter befinden sich hinter der Frau auf unserer 8 der Schwerter auf der von ihr gesehen linken Seite. Das Rot des Gewandes ist bei der Mäßigkeit in die Flügel gewandert, wird hier also quasi umgedeutet als ein Organ, mit dessen Hilfe ich mich in der Luft bewegen kann.

Wir werden gleich noch sehen, dass gerade die Verbindung des Herzens und seiner roten Farbe mit dem Element Luft ein substanzielles Element unserer Karte ist.

Betrachten Sie ansonsten ruhig auch einmal benachbarte Karten bei solchen „Parallelen“. Auf die Mäßigkeit folgen zwei „Nachtkarten“ – der Teufel und der Turm mit pechschwarzem Hintergrund. Ebenso sieht es nach der 8 der Schwerter mit der 9 der Schwerter und der 10 der Schwerter aus: auch sie sind Nachtkarten mit schwarzem Hintergrund. Und beide „Vorgängerkarten“ haben einen grauen Hintergrund – wir befinden uns also in einem Zwischenzustand oder Übergang zwischen einem klaren, sonnigen Himmel und dem Nachthimmel der Folgekarten, oder psychologisch zwischen einem bewussten und einem unbewussten Zustand.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Versuchen wir uns nach der Betrachtung all der parallelen Karten nun in einer (vielleicht nur vorläufigen) Interpretation.

Für mich persönlich wirkt das Ganze wie eine rituelle Szene, in der sich die zentrale Figur sehr konzentriert und sicher bewegt. Durch ihr rotes Kleid wirkt sie als Figur gegen den grauen Hintergrund doppelt hervorgehoben, selbst wenn sie nicht die einzige Person auf der Karte wäre. Es ist ganz alleine ihre „Show“.

3 der Schwerter. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Eine „dramaturgisch“ ähnlich gestaltete Karte ist die 3 der Schwerter: Bei ihr ist das Muster der roten Figur im Vordergrund vor einem grauen Hintergrund sozusagen auf die Spitze getrieben. Das Bild besteht ausschließlich aus diesen beiden Elementen!

Jeder gute Bühnenbildner weiß, wie er seine Figuren bestmöglich „in Szene“ setzen kann und Pamela Colman Smith hatte viel für das Theater gearbeitet. Achten Sie beim nächsten Theater- oder Opernbesuch einmal darauf, wie viel von der Bühne in grau gehalten ist.

Zurück zu unserer Frau mit dem roten Kleid. Wie wirkt ihre Körpersprache auf uns? Alles an ihr wirkt kontrolliert und keinesfalls unter Zwang. Womöglich hält sie sogar die losen Enden des grauen Bandes hinter ihrem Rücken in den Händen, wer weiß?

Der Magier. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Wie wir schon vorher festgestellt haben, teilt sie eine Reihe von Merkmalen mit dem Magier, bis hin zum roten Umhang, und doch ist sie ganz anders. Keine Spur von der fast schon triumphalen, demonstrativen Geste „wie oben so unten“ des Magiers, stattdessen finden wir ein intensives „Hinspüren“, das ganz bewusst – so scheint es jedenfalls mir – auf sonst „normale“ Möglichkeiten verzichtet. Sehen? Schalten wir mal mit der Augenbinde aus. Tasten? Die Arme sind hinter dem Rücken. Freier Weg? Die Schwerter bilden so etwas wie Zäune, die manche Wege abschneiden.

Und dann ist da noch das Band um die Leibesmitte. Als Fesselung wirkt es nicht besonders überzeugend, es sieht ohnehin eher aus wie ein Schal als wie ein Seil, aber es scheint zumindest symbolisch die sonst mit „Intuition“ oder „Bauchgefühl“ assoziierten Regionen des Körpers zu binden. Wer mit Chakren arbeitet, denke hier gerne auch an die untersten drei Chakren.

Aber das Herz ist frei! (Und das Kehlkopf-Chakra darüber ebenfalls…) Kann es sein, dass in einer Schwerter-Karte, die ja mit den Kräften des Verstandes und des Denkens zu tun haben sollte, das Herz die zentrale, die einzige Figur leitet? Auch die rote Farbe des Kleides weist auf das Thema „Herz“ hin. Sich vom oben angesprochenen „Bauchgefühl“ oder vom Herzen leiten zu lassen, sind übrigens unterschiedlichen Dinge.

Mit dem Herzen wären wir wieder bei der optischen Parallele zur 3 der Schwerter, die das Herz ins Zentrum stellt, aber andere Aspekte von „Herz – Schwerter“ behandelt als unsere 8 der Schwerter.

Jedenfalls bewegt sich die Frau (wie die Mäßigkeit und wie der Stern aus den großen Arkanen) zwischen den Elementen Erde – unserem materiellen Dasein und unseren Ressourcen – und Wasser – unserer emotionalen Ebene, den Gefühlen und Wünschen. Die Mäßigkeit als auffällige Parallele steht nicht nur in beiden Welten, sondern mischt auch – in einem quasi magischen Vorgang die Essenzen zweier Kelche. Crowley hat hier sehr richtig für diese Karte die Alchemie ins Spiel gebracht, denn es wird eine Synthese aus zwei ganz unterschiedlichen Elementen gebildet. Das ist letztlich auch das, was unsere Heldin der 8 Schwerter versucht, wenn auch im „menschlichen“ Maßstab und nicht als der Erzengel der Karte „Mäßigkeit“.

Der Verstand, die Schwerter, stecken die Grenzen für diesen Weg, das dazugehörige Element Luft weht sogar als Wind durch die ganze Szene. Es wird aber klar, dass er nicht mehr nur mit ihm alleine beschritten werden kann. Vielleicht sind die Schwerter auch ein Schutz gegen andere, die nicht in diesen Ritus, dieses magische Experiment eindringen sollen: Wohin trägt mich mein Herz, wenn ich ihm alleine die Führung anvertraue?

Der Wagen – Detail Burg. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Die graue Burg schließlich erinnert an die graue Burganlage im Hintergrund des Wagens – der Karte, die für das Verlassen des sicheren und fest gefügten Refugiums steht, ohne dass man sich freilich über die genaue einzuschlagende Richtung schon im Klaren wäre. Als graue Burg ist sie ein klassischer Hintergrund, also etwas das den Vordergrund – unsere rot gekleidete Figur – erst richtig zur Geltung bringt. Ob unsere Frau der 8 Schwerter schon ihr Refugium verlassen will, das wissen wir freilich nicht. Im Moment ist es einfach da und gibt ihr nicht nur eine Fläche zur eigenen Entfaltung (wie es auch der graue Himmel bietet), sondern eine verlässliche, in Stein gehauene Basis für ihre magischen Experimente. Weitere Burgen finden wir übrigens beim König der Münzen (klar!), bei der 3 der Münzen im Detail, bei der 4 der Münzen, bei der 6 der Münzen, bei der 8 der Münzen, bei der 9 der Münzen, bei der 10 der Münzen im Detail, bei der 5 der Kelche als Ruine, bei der 6 der Kelche im Detail, bei der 7 der Kelche als Phantasie, bei der 4 der Stäbe, aber bei keiner einzigen weiteren Schwerter-Karte. Burgen scheinen also eher zu den Elementen Erde (Münzen) und Wasser (Kelche) zu gehören, was wieder zum Motiv der Füße in diesen beiden Elementen passt.

Und das scheint mir das eigentliche Mysterium dieser Karte zu sein: Die Vereinigung von Erde und Wasser – den beiden weiblichen Elementen im Tarot – über das (männliche) Element der Luft – neben den Schwertern hier auch über den allgegenwärtigen Wind dargestellt. Damit das gelingt, steckt die Luft zwar den Rahmen ab, lässt aber dann das Herz agieren.

Der Gehängte. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Der rituelle Charakter der Karte zeigt auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Gehängten (der lustigerweise ebenfalls das Schicksal einer populären Fehlinterpretation mit ihr teilt). Auf beiden Karten führt jemand eine Zeremonie, ein „magisches Experiment“, wenn man so will, mit den innersten Kräften seiner selbst durch. Der Gehängte arbeitet dabei mit sich selbst als ganzer Person, die er in eine besondere und reichlich ungewöhnliche Position bringt, ja sich dieser Position aussetzt (warum, das wird an anderer Stelle noch zu erläutern sein). Die Dame der 8 Schwerter dagegen reduziert sich, schränkt sich Teile Ihrer Fähigkeiten selbst ein (Sicht, Bewegung usw.), um umso konzentrierter mit einem ganz bestimmten Aspekt ihrer selbst zu arbeiten.

Was sagt mir nun die 8 der Schwerter, wenn ich sie ziehe? Wo darf / sollte mein eigener Verstand vielleicht einmal die Kontrolle abgeben, weil er zwar den Rahmen erschließen kann (die Schwerter um die Figur), aber mich nicht mehr auf dem Weg durch die Sphären der Erde und des Wassers leiten kann? Wo befinde ich mich selbst in einem Akt der Balance zwischen meinen Ressourcen (Erde) und meinen Gefühlen (Wasser)? Wo suche ich diese Balance? Kann ich es wagen, diese Balance nicht alleine mit den „Bordmitteln“ meines Verstandes zu finden?

Wir stehen aber nicht nur mit je einem Fuß auf der Erde und im Wasser, umringt von 8 Schwertern, sondern die gesamte für uns im Moment sichtbare Welt (die „Bühne“ der Karte 8 der Schwerter) ist genau so gebaut: Wir befinden uns vor einem großen Gewässer, das bis zum Felsen der Burg reicht, und darüber weht der Wind. Die Burg auf dem Fels, die wir vielleicht gerade eben verlassen haben, verspricht Schutz. Es ist auch ein Schutz vor dem, was wohl in diesem großen Gewässer lauern mag. Wenn auf Bildern ein Meer oder ein großer See dargestellt wird, ist sehr oft unser Unbewusstes damit gemeint. Der Fuß im Wasser könnte einen ersten Kontakt damit außerhalb des geschützten Refugiums der Burg bedeuten.

Möglicherweise hilft uns bei unserem Unterfangen ein freiwilliges Aufgeben von bewusster Kontrolle, von Schutzmechanismen (Hände). Damit verbunden ist auch das Aufgeben von Manipulationen (manus = Hand) oder davon, etwas „im Griff“ zu haben, zu „begreifen“. Letztlich geht es darum, sich auf den Weg des Herzens zu verlassen. Wir sehen hier – um mit Saint-Exupéry zu sprechen – mit dem Herzen und nicht mit den (verbundenen) Augen.

Die Augenbinde hilft, den Weg zu finden.

Bis jetzt haben wir – außer bei den Korrespondenzen zu ein paar weiteren Karten – noch gar nicht über die Zahl(en) dieser Karte nachgedacht. Bei Zahlen gibt es eine Reihe ganz unterschiedlicher Zugänge und Traditionen zu deren Bedeutung, sofern wir über eine profane Funktion des bloßen Abzählens von Gegenständen hinaus gehen wollen. Aber vielleicht gibt es auch einige ganz intuitiv-psychologisch zugängliche Bedeutungen?

Die 8 wird oft als eine Zahl des Neuanfangs oder Übergangs in eine neue Ebene gesehen, am achten Tag fängt eine neue Woche an, die achte Note einer Tonleiter befindet sich auf einer höheren Oktave (octave = lateinisch für „die achte“). Das passt eigentlich recht schön zu unserer Karte, in der ein ritueller Vorgang zu einer neuen (Bewusstseins-)Ebene führen kann. Im Buddhismus ist übrigens der „Edle Achtfache Pfad“ zur Erlangung des Nirvana ein zentraler Bestandteil der Lehre. Die 8. Karte der großen Arkanen in traditionellen Tarot-Decks ist die Gerechtigkeit, die ebenfalls eine Ausgleichung (der „Dinge“ in ihren Waagschalen) zum Thema hat. Waites Abweichung (das 8. große Arkanum ist bei ihm – und seinen zahlreichen Epigonen – die Kraft) zugunsten einer recht oberflächlichen astrologischen Zuordnung würde ich persönlich hier mal außen vor lassen. Für mich passt – nicht nur in diesem Kontext – die Gerechtigkeit besser.

8 Schwerter – Detail Schwerter. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Wenn wir die Positionen der Schwerter ansehen fällt auf, dass die 8 asymmetrisch in zwei Primzahlen geteilt wurde: 3 Schwerter auf einer Seite und 5 Schwerter auf der anderen. Hier könnte die 3 auf den Dreiklang aus Erde, Wasser und Luft hindeuten, die zentrales Thema der Karte sind. Mir kommt spontan dazu das Sprichwort „Aller guten Dinge sind drei“ in den Sinn. Aber nicht nur Gutes, sondern sogar Heiliges steht in enger Verbindung mit der 3: Die christliche Dreieinigkeit ebenso wie Isis, Osiris und Horus, aber auch die Dreifaltigkeit im Neuheidentum (Jungfrau, Mutter und altes Weib). Zwei dieser drei Schwerter befinden sich schon hinter unserer Heldin, das dritte muss sie mit ihrem Ritus noch hinter sich lassen (also psychologisch gesehen „integrieren“). In vielen Märchen gibt es übrigens drei Feen, drei Hexen oder drei Prüfungen für den Helden (oder die Heldin in unserem Fall). Bei den großen Arkanen ist die 3 die Karte die Herrscherin – ein weiblicher Archetypus des (inneren) Wachstums und der Fruchtbarkeit.

Und auch die verbleibende 5 ist eine ganz offensichtlich wichtige Zahl: Wir haben 5 Sinne, 5 Finger, und nicht zuletzt ist die 5 auch die Zahl der „Quintessenz“ (des „5. Elements“ neben Feuer, Wasser, Erde und Luft). Das Pentagramm, das die Scheiben oder Pentakel im Tarot ziert hat aus diesem Grund 5 Spitzen – für die 4 Elemente und die Quintessenz. Diese 5 Schwerter scheinen so etwas wie die Basis (oder auch die Rückendeckung) zu sein, von der aus unsere Heldin ihren Ritus durchschreitet. Bei den großen Arkanen ist die 5. Karte dann auch der Hierophant, der als Ansammlung der Weisheit bestimmt keine schlechte Ausgangsposition für solch ein Unternehmen ist.

Zuletzt noch – und das ist eine Bedeutungsebene, die primär nur im deutschen Sprachraum funktioniert: Die Acht ist natürlich auch in der Achtsamkeit enthalten, was mir ein recht passender Abschluss zu unseren Betrachtungen zu sein scheint.

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9. Die große Beliebigkeit.

Dem Tarot wird manchmal vorgeworfen, dass sich die verschiedenen Autoren und Schulen so weit und in vielfacher Weise widersprechen, dass im Endeffekt die Auslegung der Bedeutung der Karten vollkommen beliebig würde.

Da ist schon was dran.

Ein Beispiel für ganz konträre Auslegungen haben wir bereits bei unserer (vorläufigen) Betrachtung des Teufels kennen gelernt. Und natürlich bringen unterschiedliche Tarot-Decks auch ganz unterschiedliche Blickwinkel mit sich, sind in unterschiedliche Kontexte eingebettet, stammen von Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund usw.

Es gibt – glücklicherweise! – keine „Oberste Tarot-Behörde“, die erst einmal jedes Tarot-Deck, aber auch jede Literatur zum Tarot vorweg absegnen und freigeben müsste. Wenn vielleicht auch einzelne Tarot-Autoren und -Autorinnen ihre Sicht der Tarot-Welt etwas dogmatisch vertreten, so trifft das ganz bestimmt nicht für die Gesamtheit aller „Tarot-Verrückten“ zu: Jede/r kann letztlich mit dem Tarot machen, was ihr/ihm beliebt. Manches wird dann höchst originell sein und ganz neue Wege betreten, anderes eher gequält (um nicht „gequirlt“ zu sagen) wirken. Sei es drum!

Tendenziell sind hier übrigens derzeit die englischsprachigen Länder führend, die deutschsprachige Tarot-Szene ist leider seit einigen Jahren vergleichsweise wenig aktiv, auch was die Zahl und visionäre Qualität von Publikationen, Foren, sozialen Medien usw. betrifft. Die letzten für mich wirklich bemerkenswerten Veröffentlichungen waren der Sentenzia Tarot (Eva-Christiane Wetterer und Anja-Dorothee Schacht) sowie das Buch „Narrensprünge“ von Margarete Petersen zu ihrem Tarot – beides bereits aus dem Jahr 2010. Vielleicht auch nur ein Dornröschenschlaf…

Also doch alles ganz beliebig? Oder gibt es zumindest bei den verschiedenen Tarot-Decks so etwas wie einen „(kleinsten) gemeinsamen Nenner“, der alle (brauchbaren) Tarot-Decks und die gesamte „Tarot-Gemeinde“ mit ihren unzähligen Publikationen umspannt?

Auch hier möchte ich wieder einen eher psychologischen Ansatz verfolgen: Jedes Deck hat eine seine ganz eigene Entstehungsgeschichte, seinen ganz eigenen Künstler/Künstlerin mit seinem/ihrem spezifischen Blick auf die Welt. Das spiegelt sich unmittelbar darin, dass diese verschiedenen Decks auch unterschiedliche Inhalte in uns aktivieren, andere Assoziationen, Emotionen, Erinnerungen usw. evozieren. Für mich als Benutzer und „Befrager“ der Karten ist es ein ganz enormer Unterschied, ob der „Magier“ der Holzschnitt eines Jahrmarkt-Tricksters ist wie beim Tarot de Marseille oder ob ich Das Walt-Disney-Zitat „Wenn Du es träumen kannst, kannst Du es auch machen“ lese, wie beim Sentenzia-Tarot (bei dem zudem auch noch die Art des Textsatzes zur Bedeutung beiträgt).

Selbstverständlich kann man mit viel gutem Willen auch hier noch eine gemeinsame Basis ausmachen, aber die Unterschiede sind dann doch oft ganz erheblich. Es wäre ja auch schade, wenn sie es nicht wären – welchen Sinn würden ansonsten mehrere unterschiedliche Tarot-Decks machen? Und nein, das ist gar nicht trivial: Man kann die schlechten, die epigonenhaften, die „me-too“-Decks genau daran erkennen: Tragen sie tatsächlich etwas Neues bei? Überraschen sie mich noch? Gibt es komplett unerwartete Aspekte? Oder wird eine altbekannte Szenerie (meist aus dem Waite-Smith-Tarot) lediglich in neuer „Kostümierung“ dargebracht?

Letztlich bedeutet das aber: Jedes Tarot-Deck (wenn es etwas taugt) muss komplett neu „erobert“ werden. Ich muss tatsächlich wieder bei NULL neu anfangen! Ein  gutes Beispiel ist der Tarot von Margarete Petersen: Was für eine mächtige Bildsprache! Aber so weit entfernt von allem bislang Bekanntem, wie man es sich nur vorstellen kann.

Dennoch sind auch diese sehr weit voneinander entfernten Decks nicht vollständig „beziehungslos“ gegenüber bestehenden – und insbesondere den „klassischen“ – Tarot-Decks. Man kann es sich vielleicht so vorstellen, wie ganz unterschiedliche Menschen ein und dieselbe Person wahrnehmen. Ein Ehepartner wird andere Aspekte sehen als ein Kollege, ein Lieferant andere als ein Kunde. Oder der Postbote, der Hausarzt, der Steuerberater, der Trambahnfahrer. Alle sehen dieselbe Person aus ihrer individuellen Perspektive, aber man wird als Außenstehender vielleicht niemals auf die Idee kommen, dass die alle über den gleichen Menschen sprechen. Und diese unterschiedlichen Perspektiven halten wir mit den verschiedenen Tarot-Decks in der Hand.

Es geht bei verschiedenen Decks also „irgendwie“ schon um das Gleiche, aber manchmal ist das einfach nicht mehr klar erkennbar. Und tatsächlich muss es das auch gar nicht sein: Wenn die gewählte Perspektive sowohl in sich logisch stimmig, als auch mit meinen Bedürfnissen kongruent ist, dann brauche ich zunächst einmal keine anderen Perspektiven. Die gewählte passt ja soweit.

Aber widerspricht das denn nicht der Idee, dass die großen Arkanen (und sehr wahrscheinlich auch die kleinen!) Archetypen gemäß C. G. Jung darstellen? Darf es unter diesem Gesichtspunkt überhaupt substanzielle Unterschiede zwischen verschiedenen Tarot-Decks geben?

Ein Archetypus ist allerdings etwas, das man „in freier Natur“ nicht wirklich zu Gesicht bekommt. Die Archetypen entsprechen viel mehr der platonischen Ideenwelt, von der wir immer nur die schattenhaften Projektionen zu sehen bekommen, die die jeweiligen Kulturen und Zeitalter daraus bilden. Was wir in den Karten in der Hand haben, sind stets nur Symbole für die Archetypen, und die dürfen sich freilich voneinander unterscheiden.

Der Tarot ist – so genutzt – vielleicht sogar ein sehr tauglicher Lehrmeister, um einfache „schwarz/weiße“ Erklärungen zu hinterfragen und nach weiteren, zunächst verborgenen Bedeutungen und Wahrheiten zu suchen.

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8. Schwierigkeiten mit den Herrschaften vom Hofe.

Bislang konnten wir uns ganz passabel auf „intuitive“ Weise mit den Tarotkarten auseinandersetzen. Dank Pamela Colman Smith haben wir ein Kartendeck, das sehr „szenisch“ aufgebaut ist und dadurch auch sehr offen für unsere Interpretationen ist. Das gilt sogar für die kleinen Arkanen, die in älteren Tarots (Wirth, diverse Varianten des Tarot de Marseille, usw.) noch ohne szenische Darstellungen auskommen mussten – da gab es nur die Farbsymbole in einer schönen symmetrischen Anordnung entsprechend ihrer Anzahl.

Ein paar Karten verursachen bei dieser von mir vorgestellten „naiven“ psychologischen Zugangsweise dann aber doch Schwierigkeiten. Auch im Waite-Smith-Tarot. Die Rede ist von den 16 sogenannten „Hofkarten“, also üblicherweise Page (Bube), Ritter, Königin und König in ihren vier „Farben“ Stäbe, Kelche, Schwerter und Münzen. Irgendwie sind sich da viele Karten geradezu extrem ähnlich:

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Die Ritter sitzen alle auf ihren Pferden, König und Königin thronen (und unterscheiden sich noch nicht einmal gegenseitig besonders deutlich), die Pagen stehen alle herum und so weiter. Machen die irgend etwas? Was geht in den Figuren eigentlich vor? Worum mag es bei diesen Karten gehen?

Warum ist das so, haben wir uns mit der psychologischen Herangehensweise vielleicht verrannt?

Tatsächlich scheinen viele Tarot-Bücher beim Thema „Hofkarten“ ähnlich herumzueiern wie wir jetzt. Manchmal sollen die Hofkarten auf Personen hinweisen, manchmal auf „Stimmungen“ oder Chancen, in anderen Deutungen ist dagegen von vier Stufen der Vervollkommnung der jeweiligen Farb-Charakteristik die Rede: Die „ungeformte“ Kraft beim Buben, „gerichtet“ beim Ritter, „erfahren“ bei der Königin und schließlich „etabliert“ beim König (etwa bei Katz & Goodwin: „Secrets of the Waite-Smith Tarot“, Llewellyn, 2015). Aus den Bildern selbst lässt sich all das noch nicht einmal mehr mit sehr viel gutem Willen herauslesen.

Bei der Analyse der Hofkarten haben wir zwei Themen:

  1. Die Zuordnung zu den vier „Farben“ Stäbe, Kelche, Schwerter und Münzen. Das ist noch vergleichsweise einfach und wird an späterer Stelle noch einmal weiter vertieft. Mit den Farben kann man sich den Hofkarten aber zumindest schon einmal nähern: Gehen wir davon aus, dass es 4 „Königreiche“ mit je einem König, Königin, Ritter und Pagen gibt. Diese Königreiche entsprechen bestimmten Lebenswirklichkeiten bzw. Energien.
  2. Die Unterschiede zwischen den „Rängen“ König, Königin, Ritter und Page. Das ist der weitaus kniffligere Teil.

Beginnen wir also mit den 4 „Farben“.

Den vier Farben werden (in der Tarot-Literatur übrigens erstaunlich einhellig!) bestimmte Energien, bzw. dahinter stehende alchemistische Elemente zugewiesen:

  • Die Stäbe stehen für Aktionen, Tatkraft, Veränderung, Energie aber auch Intuition – entsprechend dem alchemistischen Element Feuer. Als „Eselsbrücke“ mag man sich hier vorstellen, dass die Stäbe als brennbares Material als einzige das Element Feuer zu tragen vermögen.
  • Die Kelche stehen für Emotionen, „Mitschwimmen“ und Gefühle, für Phantasie, ungerichtete Energien  – und entsprechen dem alchemistischen Element Wasser. Auch hier ist der Weg der Assoziation kurz: Die Kelche können als einzige das Element Wasser beherbergen und tragen.
  • Die Münzen stehen für – na klar – Geld, aber viel mehr noch generell für Ressourcen (gerne auch psychologisch zu verstehen!), Materielles, Werke, Erdverbundenes – sie entsprechen in alchemistischem Sinne dem Element Erde. So wie das Erz für die Münzen aus der Erde stammt oder in weiterem Sinne die Erde selbst eine ebenso runde Gestalt aufweist wie die Münzen.
  • Die Schwerter stehen für Gedanken und Rationalität, der Begriff „scharfer Verstand“ kommt nicht von ungefähr – und entsprechen dem alchemistischen Element Luft. Ein Schwert kann durch die Luft schneiden, saust im Kampf durch die Luft wie auch umgekehrt ein kalter scharfer Wind etwas „Schneidendes“ an sich hat.

Das sind also schon mal recht deutliche Unterschiede zwischen den Farben, die auch leicht und einigermaßen intuitiv hergeleitet werden können. Das ist für unseren psychologischen Ansatz günstig. Die Farben sind sozusagen die „Herrschaftsbereiche“ der jeweiligen Hofkarten. Das Königspaar wird über die ihm zugeordnete Farbe „herrschen“. Aber die Schwierigkeiten der Hofkarten liegen eher darin, König, Königin, Ritter und Pagen zu unterscheiden.

Was fällt als Erstes auf?

Wir haben Männer-Überschuss! Ein König, ein Ritter und ein Page gegenüber nur einer Königin – ist das eine faire Verteilung? Tatsächlich haben viele modernere Tarot-Decks versucht eine Art Gleichberechtigung herzustellen und haben z.B. Ritter und Page in Prinz und Prinzessin umbenannt. Im Ergebnis haben wir eine sehr populäre Deutung der 4 Karten als jeweils 1 männliche und 1 weibliche reife Personen (König und Königin) und als jeweils 1 männliche und 1 weibliche noch unreife Person (Prinz und Prinzessin).

Das ist eine sehr schöne und symmetrische Lösung des Hofkarten-Problems und wir alle haben ja bei Symmetrien gerne den Eindruck, dass sie „richtiger“ sein müssen, als asymmetrische Lösungen. Die schöne Lösung der zwei „Pärchen“ hat aber ein kleines Problem: Sie ist ziemlich ignorant. Auf das Waite-Smith-Deck angewandt heißt das nämlich einfach zu ignorieren, was auf den Karten steht. Da gibt es nämlich genau 1 Pärchen: König und Königin. „Ritter“ und „Page“ sind weit davon entfernt, sich zu einem Pärchen zu ergänzen!

Freilich lassen sich durchaus Geschlechterstereotypen z.B. auf die „männlich-aktiven“ Ritter oder die „weiblich-passiven“ Pagen projizieren. Aber richtiger wird die Interpretation damit leider auch nicht. Und tatsächlich ist das „echte“ männlich-weiblich-Paar König und Königin einander bis hin zur sitzenden Körperhaltung extrem ähnlich, wir können niemanden etwa als eindeutig „aktiven“ oder „passiven“ Teil des Paares dingfest machen. Die Unterschiede liegen jeweils nur in kleinen Details. Die Klischees der männlich/weiblich-Zuordnungen jedenfalls greifen zumindest auf der Ebene der bildlichen Darstellung nicht.

Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Auch sollten wir getrost die „Ränge“ König und Königin als einander gleichwertig betrachten – man denke nur an die Queen in England, Königin Silvia usw. die als Regentinnen und Thronerbinnen die Macht (wenn auch heute nur noch die repräsentative Macht) inne haben, genau so wie Könige als männliche Thronerben in anderen Dynastien. Im Gegensatz dazu sind Ritter und Pagen keineswegs auf gleicher „Augenhöhe“.

Also haben wir mit dem König und der Königin zwei einander sehr ähnliche Karten und mit Ritter und Pagen zwei weitere Karten, die ganz unterschiedlich zueinander und zu dem Pärchen sind. Zusätzlich scheint der Page von allen die „jugendlichste“ Variante zu sein, sowohl was das dargestellte Alter der Figuren betrifft, als auch bezüglich der mittelalterlich-höfischen Rolle „Page“, auf die Bezug genommen wird.

Transaktionsanalyse und eine innere „Familie“.

Der amerikanische Psychologie Eric Berne hat im Rahmen seiner Transaktionsanalyse die Vorstellung vertreten, dass wir im Laufe unserer Entwicklung unsere Eltern und ihre Ansprüche und Forderungen an uns, aber auch ihre Fürsorge und ihren Schutz als quasi „innere Personen“ aufbauen, die zuweilen in unseren Interaktionen mit anderen Menschen das Ruder übernehmen und uns handeln/sprechen lassen wie unsere Eltern (bzw. das, was wir von ihnen verinnerlicht haben). Berne nannte das diese innere Person das „Eltern-Ich“.

Aber nicht nur die Eltern, sondern auch wir selbst als Kind hinterlassen Spuren in uns als erwachsene Menschen. Das „innere Kind“ kann unser Handeln steuern, man denke nur an den genialen Komiker Luis de Funès, der letztlich in vielen seiner Rollen ein tobendes, jähzorniges – aber eigentlich ein „kleines Kind“ dargestellt hat. Berne hat diesen Ich-Zustand das „Kind-Ich“ genannt (das übrigens auch ganz „brav“ und angepasst, ja überangepasst sein kann).

Und schließlich gibt es noch ein „Erwachsenen-Ich“, das rational agiert, im Diskurs mit anderen auch deren Standpunkte sieht und integriert, aktiv Entscheidungen fällt und die eigentliche und nicht beeinträchtigte erwachsene Person „in uns“ ist.

Eigentlich gar kein schlechtes Modell für unsere so problematischen Hofkarten. Wir können die vier Hofkarten als unsere inneren Repräsentanten der Eltern, unseres erwachsenen rationalen Ichs und unseres inneren Kindes sehen. Und je nach Farbe des Kartenblattes haben auch diese Repräsentanten eine „Färbung“, ein dominantes Grundthema, in dem sie eine Eltern-, Erwachsenen- oder Kind-Ich-Rolle einnehmen.

Bernes Theorie – wie fast alle tiefenpsychologischen Theorien legt großes Gewicht auf die Umwelteinflüsse speziell der Kindheit, die unsere spätere „Binnenstruktur“ ganz entscheidend formt. Man mag jedoch auch hier noch ergänzen, dass es wohl einen nicht zu unterschätzenden Anteil an unserer Persönlichkeitsstruktur gibt, die nicht unbedingt erlernt, sondern uns angeboren ist. Auch hier sollten wir von Einflüssen auf unsere inneren Eltern- Erwachsenen und Kind-Ichs ausgehen, etwa im Sinne von Talenten, „Leitsternen“, Neigungen usw. die nicht erst in der Kindheit geprägt wurden, sondern schon vorher da waren.

Warum zwei „Eltern-Ichs“?

In vielen Fällen sind unsere Mütter und unsere Väter ganz unterschiedlich zu uns. Berne unterscheidet etwa zwischen zwei Aspekten des Eltern-Ichs: einem kritischen Eltern-Ich und einem fürsorglichen Eltern-Ich. Und oft ist das durchaus auf z.B. eine kritische, strenge, fordernde Mutter (oder Vater) und einen fürsorglichen, unterstützenden Vater (oder Mutter) aufgeteilt. Wie – das ist bei jedem Elternpaar ganz unterschiedlich. Und so macht es schon Sinn, wenn wir als „Eltern“ zwei verschiedene Karten zur Verfügung haben.

Ob nun der König oder die Königin der kritische oder der fürsorgliche Part sind, das sieht man ihnen freilich von außen nicht an und das ist ja auch in jeder Familie ein Wenig anders gelagert.

Manchmal sind es übrigens gerade die erzieherischen (und anderen) Konflikte zwischen den beiden unterschiedlich denkenden und agierenden Elternteilen, die den „Zündstoff“ unserer Kindheit ausmachen.

Warum nur ein „Kind-Ich“?

Ähnlich wie bei den Eltern-Ichs unterscheidet Berne zwischen einem „angepassten“ Kind und einem „freien“ Kind. Im Tarot muss uns dafür eine Karte – die des Pagen – genügen. Allerdings ist hier im Unterschied zu den Eltern tatsächlich auch immer nur eine einzige Person „Kind“ gewesen, wenn auch bisweilen angepasst, dann trotzig „gegen-angepasst“, frei oder rebellisch.

Wenn wir uns auf diese psychologische Deutung der Hofkarten einlassen, dann haben wir ein sehr differenziertes Modell unserer eigenen Bewusstseinszustände (Eltern-, Erwachsenen- und Kind-Ich) innerhalb von vier grundlegenden Themenkreisen, die durch die vier Farben gebildet werden.

Und die Geschlechter der Ritter und Pagen?

Üblicherweise geht man davon aus, dass die Pagen und Ritter als „männlich“ gezeichnet wurden. Allerdings haben sie zum größten Teil sehr feine Gesichtszüge, so dass wir sie ohne Weiteres auch als weibliche Figur ansehen können, wenn eine Frau die Fragestellerin ist. Ihr inneres Kind-Ich und Erwachsenen-Ich ist selbstverständlich weiblich. Versuchen Sie es sich einfach mal konkret anhand der Karten vorzustellen – wirklich große Hindernisse hat uns Pamela Colman-Smith dafür nicht in den Weggelegt.

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

7. Umgang mit multiplen Persönlichkeiten.

Gehen wir doch mal zum Teufel.

Der Teufel. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Der ist ohnehin eine ganz besondere Karte. Die meisten modernen Tarot-Autoren beteuern, dass alle Karten positive wie negative Seiten hätten, das sei selbst und ganz besonders beim von Tarot-Laien oft gefürchteten „Tod“ so, der im Übrigen ganz harmlos wäre und ganz bestimmt nicht das Ende Ihres Lebens andeuten möchte. Eigentlich ginge es ihm ja nur darum, unbequeme Veränderungen zuzulassen, die ohnehin nur zu unserem Besten seien. (Stimmt schon alles, also keine Sorge, wenn Sie den „Tod“ ziehen!)

Beim Teufel dagegen spricht niemand mehr von positiven Eigenschaften. Er stehe für Abhängigkeiten, Süchte, Zwänge, manchmal gar für die dunklen okkulten Mächte, heißt es dann. Der Höllenfürst, der Antichtrist, der Verführer.

Wenn wir ihn betrachten, könnte er eine finstere“ Variante des Magiers sein: Auch der Teufel zeigt „wie oben so unten“, allerdings weist sein Zauberstab nicht nach oben, sondern brennend nach unten. Neben dem Magier gibt es eine noch offensichtlichere „Geschwisterkarte“: Die Liebenden. Bei ihr blickt ein Engel von oben herunter – und die beiden Menschen sind auch freundlicherweise nicht angekettet, sondern verfügen über ihren freien Willen. So ein Lieber!

Trotzdem irgendwie ein klein wenig unfair gegenüber dem armen Teufel (zumindest dem auf unserer Tarotkarte), dass es so gar nichts Positives an ihm geben soll, oder?

Wenn wir uns – wie im letzten Beitrag beschrieben – mit einer der Figuren auf der Karte „der Teufel“ identifizieren, welche ist das dann? Viele von uns werden ganz spontan zu einem der beiden geknechteten Wesen (halb Mensch, halb Dämon) greifen, angekettet und unterdrückt vom Teufel, aber angesichts der recht lockeren Ketten um den Hals erfreulicherweise nicht ohne Hoffnung.

Das ist lustig, oder?

Der Teufel selbst ist etwa doppelt so groß und nimmt mit seinen Flügeln etwa 2/3 der Karte ein, aber wir wählen ausgerechnet lieber die kleine geplagte Figur ganz unten! Gibt es da ein Zögern, uns ausgerechnet mit dem Teufel zu identifizieren? (Wir sind ja schließlich „die Guten“…)

Das Zögern, sich auf solche Weise mit dem Teufel „einzulassen“ mag religiöse Hintergründe haben, es liegt aber sicher auch an dem, was jungianische Psychologen in der Karte sehen: Nämlich eine Darstellung des „Schattens“ in uns. Der „Schatten“, das sind alle diejenigen Bereiche unserer Persönlichkeit, die wir lieber wegsperren. Das, was wir für unpassend in uns halten, was unsere Maske nach außen gefährdet, was uns peinlich, unangenehm oder unangepasst ist, das was wir an anderen Menschen hassen weil wir es uns an uns selbst nicht eingestehen möchten.

Stellen wir uns aber trotzdem – nur so zum Spaß – mal vor: Der „Teufel“ auf dieser Karte, das sind ebenfalls wir, genauso wie wir auch die angeketteten kleinen „Unterteufelchen“ sind. So. Da gibt es also ganz unangepasste Anteile in uns, die wir lieber verstecken möchten, weil sie unserem gepflegten Selbstbild nicht entsprechen.

Was würde uns – aus einer solchen unangepassten Position heraus – als Erstes auffallen? Mit Sicherheit, warum wir uns überhaupt an den blöden Stein ketten lassen. Der Teufel selbst ist übrigens so frei, oben drauf zu sitzen. Und er könnte uns auch fragen, warum wir denn noch nicht bemerkt haben, dass die Ketten ziemlich locker sitzen!

Wenn wir die Karte „der Teufel“ auf diese Weise sehen, dann macht es sehr viel Sinn, nicht nur eine einzelne Figur als die unsere zu betrachten (schon gar nicht eine Randfigur), sondern das komplexe Zusammenspiel mehrerer Figuren als unser eigenes „inneres Theater“ zu studieren. Wir sind gleichzeitig die geknechteten kleinen Figuren und der Teufel. Und zudem auch noch der massive Klotz, an den die Figuren gekettet sind – der gehört natürlich ebenfalls zu unserem Inneren.

Und so wird aus dem Teufel dann doch noch eine positive Karte. (Klar, war sie schon immer!) Wir müssen nur begreifen, dass wie hier einen Teil von uns selbst vor uns haben, und dass der uns sehr hilfreiche, wenn auch erst einmal unangenehme Dienste leisten kann.

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6. Erste Zugänge zur Arbeit mit den Karten.

Wenn wir nun akzeptieren, dass alles auf einer Tarotkarte mit uns selbst zu tun haben kann – sei es als das, was uns umgibt und beeinflusst, sei es ein Teil unserer Selbst und dass es zudem von Bedeutung für uns ist, was uns der Zufall da präsentiert – dann können wir anfangen, die Karten zu lesen.

Ich möchte zunächst mit einzelnen Karten anfangen und die oft recht komplexen Wechselwirkungen für später aufschieben. Komplexe Legesysteme wie das „keltische Kreuz“ verleiten gerne zu einer Banalisierung der Bedeutung der einzelnen Karten, weil ja bereits eine gehörige Portion Komplexität durch das Legesystem selbst ins Spiel gebracht wird. Ich kenne kaum eine Fragestellung, für die nicht eine einzelne Karte aus dem Waite-Smith (oder einem vergleichbar komplexen) Tarot genügen würde, wenn man sich nur richtig mit ihr auseinandersetzt.

Gehen wir also davon aus, dass wir uns eine einfache „Tageskarte“ ziehen. Im Folgenden werde ich mich an den Waite-Smith-Karten orientieren, die hier beschriebenen Methoden funktionieren natürlich auch mit vielen anderen Decks (besonders mit den unzähligen Waite-Smith-Klonen).

Da liegt sie also.

Was ist unser erster Eindruck? Ist die Karte fröhlich, mystisch, bedrückend, geheimnisvoll, sachlich, irgendwie merkwürdig, lustig, positiv, unheimlich, kraftvoll, unbeschwert, starr, abstrakt, tröstlich, ambivalent, niedlich, depressiv, weise, spannend, erschütternd, nachdenklich, unklar? Beim ersten Eindruck sind noch keine Details relevant, es geht nur darum, wie die Karte ganz spontan auf uns wirkt.

Wenn Sie sich etwas unsicher sind oder zum Vergessen / Verdrängen neigen: Schreiben Sie sich einfach das erste Adjektiv auf, dass Ihnen beim Anblick der Karte einfällt.

Dann untersuchen Sie den Hintergrund. Welche Farbe hat der Himmel und der Boden, ist das eine Wüste oder eine Küste am Meer, Scheint die Sonne oder der Monde oder andere Himmelskörper? Wie könnte man den symbolischen Charakter der Landschaft beschreiben? Waren Sie schon einmal in einer emotionalen Wüste? In einer gedanklichen? Einer Wüste der fehlenden Aufgaben? Wofür stehen vereiste Gipfel? Für emotionale Kälte? Für intellektuelles „Überschreiten der Schneegrenze“? Für den Gipfel dessen, was wir erreichen können?

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in dieser Landschaft. Wie fühlen Sie sich dabei? Entspannt? Unsicher? Genießen Sie es oder fühlen Sie sich dort eher unwohl? Beachten Sie dabei noch gar nicht die Figuren, ob Mensch, Tier oder höheres Wesen, sondern versuchen Sie sich rein auf die Landschaft zu konzentrieren und wie es Ihnen dabei geht.

Gehen Sie dabei vom Gesamteindruck langsam weiter zu Details. Steht da vielleicht ein Baum (oder mehrere)? Andere Pflanzen? Wege? Wie sieht das Wetter aus, haben wir Wind, stehen Wolken am Himmel, usw.? Gibt es Gewässer, wenn ja: ist das ein Meer, ein Tümpel, ein Fluss? Haben wir spiegelglattes Wasser oder „raue See“? (Oder sogar beides, wie links und rechts vom Boot der „6 Schwerter“?) Ist überhaupt ein Boden zu sehen? Ist der Himmel zu sehen? Was macht das alles mit Ihnen? Sprechen Sie aus, was Sie fühlen oder machen Sie sich wieder Notizen, wenn das für Sie hilfreich ist.

Ist Ihnen die Schnecke bei den 9 Scheiben aufgefallen?

Die Schnecke ist ja bereits einer der „Akteure“ in der Landschaft, das ist unser nächstes Ziel: Welche Menschen, Tiere, Engel und andere Wesen befinden sich auf der Karte? Achten Sie auch auf die Anzahl – ist es nur eine Figur, sind es zwei, drei oder mehr? Wenn es mehr als eine ist, dann suchen Sie sich eine aus, die Sie spontan „anspricht“ (ansonsten gibt es ohnehin keine Wahl) und stellen Sie sich vor, dass Sie diese Figur sind. (Das kann übrigens auch die Schnecke auf der Karte „9 Scheiben“ sein!)

Achten Sie dabei zunächst auf die Körperhaltung: Was sagt sie aus? Nehmen Sie ruhig selbst ebenfalls diese Körperhaltung ein, versuchen Sie dabei auch die Mimik (sofern erkennbar) zu imitieren. Wie fühlt sich das an? Erinnern Sie sich noch, wie Sie die Landschaft gespürt haben? Verbinden Sie jetzt beides: Sie sind diese Figur in dieser Landschaft.

Wenn es weitere Figuren gibt: Findet da eine Interaktion zwischen Ihrer Figur und der/den anderen statt? Ist die Interaktion noch in vollem Gange oder bereits vorbei? Oder können Sie erahnen, dass es hier noch eine Interaktion geben wird? Was passiert da? Ist das freundlich, liebevoll, feindselig, abwehrend, unterstützend, usw. Wer macht was? Wie wird es nach der „Momentaufnahme“ weitergehen, die die Karte zeigt?

Und wieder: Sprechen Sie darüber (wenn Sie z.B. mit Ihrem Partner/Partnerin gemeinsam Karten ziehen), schreiben Sie die Ergebnisse auf. Das „Eintauchen“ in die Szenerie und die Identifikation mit einer der Figuren ist der wichtigste erste Schritt für einen psychologischen Umgang mit den Karten. Fürs Erste haben wir auch noch keine konkreten „Fragen an die Karten“ gestellt, wir wollen unsere hilfreichen Ratgeber erst einmal kennen lernen.

Als Übung können wir jeden Tag (oder auch morgens und abends) eine Karte zufällig ziehen und uns in der oben beschriebenen Weise mit ihr auseinandersetzen.

Im nächsten Schritt werden wir noch etwas tiefer einsteigen und uns nicht nur mit einer einzelnen Figur identifizieren, wir werden uns sogar mit den scheinbar „unbelebten“ Teilen der Karte identifizieren und feststellen, dass diese „multiplen Persönlichkeiten“ die Komplexität, aber auch die Einsichts-Möglichkeiten deutlich steigern.

Noch etwas später werden wir abwägen, ob und welche „symbolischen“ Ebenen der Karten wir mit einbeziehen möchten. Und schließlich können wir anfangen, mit mehr als nur einer einzelnen Karte zu arbeiten: Das ist dann nicht einfach eine lineare Steigerung der Komplexität, sondern wir beginnen unser Augenmerk auf die zahllosen Verbindungen und Querverweise zwischen den Karten zu legen.

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5. Psychologie im Tarot: Gepriesen seien die Zufälle!

Der Umgang mit dem Zufall ist sozusagen eines der konstituierenden Merkmale des Tarot. Wir ziehen eine oder mehrere Karten verdeckt aus einem gut gemischten Stapel von 78 verschiedenen Karten. Nach allem, was wir rational wissen: Zufall. Reiner Zufall. Und doch – da ist doch mehr dran?

„Es gibt keine Zufälle“ ist ein Spruch, den man in esoterischen (aber auch in psychologischen) Kreisen oft hört. Will sagen, das was uns passiert, das hat auch eine Bedeutung für uns. Nichts ist ein „läppischer Zufall“, den wir einfach abtun könnten. Nein, wenn wir genau hinsehen, dann hat alles, was uns begegnet erst einmal das Recht, von uns ernst genommen zu werden, mehr noch, es hat sehr wahrscheinlich unmittelbar mit uns selbst zu tun.

Das sind zwei ganz unterschiedliche Begriffe von Zufall, oder? Der erste – eher naturwissenschaftliche Begriff – sieht auf die Art der Entstehung eines Ereignisses. Und da haben wir zum Beispiel beim Ziehen einer einzelnen Tarot-Karte ziemlich genau die Wahrscheinlichkeit von 1:78, eine ganz bestimmte Karte zu ziehen. Mit etwas Geduld und wenn wir sorgfältig mischen, werden wir das in einem „Experiment“ auch empirisch nachvollziehen können.

Auf der anderen Seite steht aber ein ganz anderer Begriff vom Zufall: Nämlich der, was der Zufall denn psychologisch für uns bedeuten mag. Frühe Tarot-Autoren haben sich oft verzweifelt am naturwissenschaftlichen Begriff des Zufalls abgemüht, um die Wirksamkeit des Tarots zu beschreiben. Etwas wie „Magie“ wäre möglicherweise im Spiel oder C. G. Jungs Synchronizität (die dafür sorgt, dass akausale Ereignisse zusammen hängen), das uns alle verbindende Chi vielleicht auch. All das will ich nicht abstreiten, möglich ist alles Mögliche, sozusagen.

Dabei darf die Karte doch gerne „rein zufällig“ sein. Sie kann dennoch eine unmittelbare Bedeutung für mich aufweisen: Ich muss nur zulassen – und da sind wir wieder zurück beim Thema Psychologie – dass auch ein zufälliges Ereignis für mein Leben relevant sein darf. Und überhaupt: Welche Ereignisse in unserem Leben tragen denn nicht ein gutes Stück Zufall in sich, gerade wenn es um bedeutsame Wendepunkte in der Biografie geht!?

Erinnern Sie sich noch, wie Sie Ihre/n Lebenspartner/in kennen gelernt haben? Sofern Sie dazu nicht die Unterstützung einer professionellen Agentur in Anspruch genommen haben, war mit Sicherheit ein guter Anteil Zufall mit im Spiel. Und die Auswirkungen auf Ihr Leben? Ziemlich umfangreich, stimmt’s? Oder nehmen Sie schwere Schicksalsschläge: Todesfälle im engeren Familienkreis, Krankheit, Unfälle – überall werden wir eine ganze Menge an Zufälligem entdecken. Und wer würde leugnen, dass solche Ereignisse einen Einfluss auf uns haben, uns prägen und verändern?

Gehen wir einen kleinen Schritt weiter. Der Zufall ist überall, hat Einfluss auf unser Leben, auf das was aus uns geworden ist. Und es gab immer so etwas wie eine Interaktion zwischen uns selbst und dem, was uns das zufällige Schicksal präsentiert hat. Wir haben darauf reagiert (es zumindest versucht), und zwar auf unsere ganz persönliche Art und Weise. Und nun haben wir mit dem Tarot einen Mikrokosmos an Zufällen, auf die wir ebenfalls reagieren: Indem wir spontane Assoziationen entwickeln, Ideen haben, Gefühle, uns in den Bildern spiegeln. Auch das tun wir auf unsere ganz individuelle, einmalige Art und Weise.

Alles was dabei zu tun ist, ist zuzulassen, dass uns diese zufällig gezogenen Karten etwas zu sagen haben. Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Zufall, der in unser Leben tritt. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Zufällen des Lebens haben wir beim Tarot doch ganz aktiv danach gefragt, indem wir eine oder mehrere Karten gezogen haben. Wir haben uns bewusst auf ein „blind date“ mit dem Zufall eingelassen!

Und das Ergebnis wird aus eben diesen Gründen sehr viel mit uns selbst zu tun haben:

  1. Wir haben aktiv eine Frage „in den Raum“ gestellt. Das ist unsere ganz persönliche Frage!
  2. Wir reagieren ganz individuell auf die Bilder und Bedeutungsebenen der Tarot-Karten.

Wäre es nicht trotzdem schöner, wenn so eine Art „Magie“ hinter dem Ziehen der Karten steckt? Na klar! Vielleicht steckt da auch noch zusätzlich eine Magie dahinter und viele Menschen, die sich regelmäßig Tarot-Karten legen berichten von ganz eigenartigen, „über-zufälligen“ Ereignissen wie Karten, die immer wieder auftauchen. Aber selbst wenn es solche „magischen“ Ereignisse nicht gibt, wird das Legen von Tarot-Karten für uns funktionieren: Letztlich ist die Unterscheidung zwischen „Zufall“ und „Schicksal“ nur eine die im Kopf und nicht in der Realität stattfindet.

Das war jetzt ein arg trockener Beitrag, oder?

Im Prinzip geht es mir darum zu zeigen, dass Zufälle ganz allgegenwärtig unser Leben bestimmen und wir mit dem Tarot den Zufall in sehr kontrollierter Form nutzen können, um bislang vielleicht unbeackerte Felder unserer Psyche zu betreten. Wir behalten dabei alle Freiheiten, Dinge anzunehmen oder abzulehnen, nehmen aber ganz bewusst einen Überraschungseffekt in Kauf: Gehört das was ich da sehe tatsächlich zu mir? Hatte ich vielleicht gar nicht so erwartet! Wir müssen also entscheiden, was davon unser Inneres spiegelt und was vielleicht eher der Außenwelt entspricht und womit wir vielleicht gar nichts anfangen können.

Noch nicht ganz überzeugt? Ich bin auch noch nicht ganz fertig…

Der Zufall beim Ziehen einer Tarotkarte unterscheidet sich also nicht prinzipiell von vielen anderen Zufällen, selbst wenn diese unser Leben gravierend beeinflussen. Wichtiger als die Frage, ob ein Ereignis zufällig entstanden ist, ist die Frage, ob wir es als für uns bedeutsam akzeptieren und entsprechend darauf reagieren können.

Trotzdem könnten wir doch an Stelle einer zufälligen Auswahl uns ganz bewusst eine Karte aussuchen, um mit ihr zu arbeiten. Das wäre doch viel genauer auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten!? Es gibt doch bestimmt für mich als Person in einer bestimmten Fragestellung „passendere“ und „weniger passende“ Karten. Warum sollte ich die Auswahl dann dem Zufall überlassen?

Der Grund liegt in einem psychologischen Mechanismus, der besonders in der Tiefenpsychologie eine entscheidende Rolle spielt: Widerstand. Widerstand ist unser Schutzmechanismus gegen verdränget und uns unangenehme Inhalte. Wenn es also bei einer Fragestellung einen „blinden Fleck“ (verdrängte Themen) gibt, dann werden wir unbewusst dafür sorgen, dass diese verdrängten Themen ganz bestimmt nicht zum Vorschein kommen. Bei einer von uns selbst getroffenen Auswahl einer Karte werden wir womöglich gerade nicht diejenige wählen, die solche verdrängten Themen offen legt (die aber gerade dadurch wahrscheinlich für die Lösung der Frage wichtig ist), sondern eine möglichst „harmlose“ Karte, die uns hoffentlich weiter unsere gewohnten Bahnen gehen lässt.

Auch bei einer zufälligen Wahl können wir natürlich an eine „harmlose“ Karte geraten, wir haben aber wenigstens die Chance, dass Dinge auf den Tisch kommen die wir sonst vermieden hätten.

Und noch einen weiteren Grund gibt es für eine zufällige Auswahl: Wir neigen dazu, einem „Zufall“ (der vielleicht sogar „Schicksal“ ist) mehr Kompetenz bei ungelösten Fragestellungen zuzuschreiben als uns selbst. Schließlich haben wir es bis jetzt ja auch nicht verstanden, die Fragestellung zu lösen – sonst müssten wir nicht als ultima ratio die Tarotkarten befragen. Wenn wir – wie im ersten Beitrag erwähnt – das Vertrauen aufbringen, dass dieser (vermeintliche oder echte) Zufallsprozess des Karten-Ziehens uns tatsächlich etwas mitzuteilen hat, dann werden wir auch den größten Gewinn daraus ziehen.

Zuletzt: Es ist oft sehr hilfreich, ganz einfach und banal „überrascht“ zu werden: Eine völlig unerwartete (weil „zufällige“) Karte kann uns sehr heilsam aus dem Konzept bringen, aus der ersten Verwirrung können ganz neue Interpretationen unserer Situation und von uns Selbst entstehen.

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4. Psychologie im Tarot: Wo befinden wir uns im Tarot, psychologisch gesehen?

Dieser und der folgende Beitrag behandeln die Grundlagen dessen, was ich unter „psychologischem Umgang“ mit dem Tarot verstehe.

Die beiden Grundlagen-Themen sind einmal die Art und Weise, aus welcher psychologischen Perspektive wir die Karten und die dort gezeigten Szenen betrachten. Das zweite Thema (im nächsten Beitrag behandelt) kreist um unser Verständnis dessen, was wir „Zufall“ nennen und die Frage, ob wir uns damit ein Problem einhandeln oder nicht.

Neben vielen anderen Zugangsmöglichkeiten und Dimensionen wie Kaballa, Astrologie, Numerologie, überlieferte Bedeutungen usw. (ob diese nun den Karten inhärent sind oder zu späteren Zeiten clever dazu komponiert wurden sei egal) haben wir es beim Tarot stets und zuallererst mit Bildern zu tun. („Ach was!“) Im Falle des Waite-Smith und praktisch aller anderen modernen Tarots haben wir 78 szenische Bilder zur Verfügung. Liebhaber des Tarot de Marseille mussten sich bei den kleinen Arkanen immer schon mit Numerologie (Zahlenmystik) in purer Form herumschlagen. Für die folgende Vertiefung wähle ich das Waite-Smith Tarot aufgrund seiner besonders reichhaltigen und „lebensnahen“ Symbolik. Bei jedem dieser Bilder können wir mindestens zwei Perspektiven einnehmen:

  1. Diese Karte zeigt etwas, das außerhalb von mir passiert (und selbstverständlich Auswirkungen auf mich hat).
  2. Diese Karte zeigt etwas innerhalb von mir. Das ist besonders dann eine sehr spannende Perspektive, wenn es mehr als zwei Akteure auf der Karte gibt, etwa bei der Kraft. Dann ist ein Teil von mir (die Frau) dabei, einen anderen – wilderen! – Teil (den Löwen) zu zähmen.
  3. Mischformen, sobald mehr als ein „Akteur“ auf der Karte erkennbar ist. Das gilt auch bei Karten wie den „3 Schwertern“: Hier kann ich selbst das Herz sein, das durchbohrt wird, ich kann aber auch derjenige sein, der mit Hilfe der drei Schwerter das Herz (eines anderen Menschen) durchbohrt. Vielleicht bin ich – bzw. ein wichtiger innerpsychischer Teil von mir – aber auch die Schwerter selbst?

Die Grundfrage ist immer: Was auf dieser Karte bin ich selbst, was gehört zu mir, ist ein Teil von mir? Wo ist mein innerer kleiner Hund, der mich instinktiv warnt, wenn ich mich wie der Narr gefährlichen Klippen nähere? (Die Gefahr der Klippe in unmittelbarer Nähe des Narren ist übrigens eine der vielen genialen Neuerungen des Waite-Smith-Decks.) Was in mir sind die Abgründe und die Klippen? Ist das ein stabiles Bild, tanze ich zwischen den Abgründen im sicheren Wissen, dass mich meine Schutzmechanismen – der kleine weiße Hund – vor dem Absturz bewahren werden? Oder ist das eine Karte des dynamischen Übergangs, die nur einen Augenblick vor dem Verhängnis „fotografiert“ wurde? Und wenn sogar die Abgründe zu mir selbst gehören sollten: Vielleicht wäre es zwar närrisch, aber im Ende gar nicht so falsch, mich in sie fallen zu lassen? Vielleicht sind das verdrängte Themen aus Kinderzeiten, in die man jetzt, als erwachsener Mensch ohne Angst (und das ist die frappierendste Eigenschaft des Narren: er hat ganz offensichtlich keinerlei Angst!) hineinstolpern darf?

Wir sehen, mit nur einer einzigen unschuldigen Frage, „Was auf dieser Karte bin ich selbst?“ bewegt man sich sofort meilenweit weg von wahrsagerischen Deutungen und hin zu sehr intimen, ganz  persönlichen Themen. Zu einer psychologischen Perspektive. Und es liegt ganz und gar an mir, wie weit ich dabei gehen möchte, wie viel von dieser Karte ich „verdauen“ kann oder bereit bin als einen Spiegel meiner Seele zuzulassen.

Das ist übrigens auch der Grund, warum ich es für keine besonders gute Idee halte, sich die Karten von jemand anderem legen (und deuten!) zu lassen: Oft kommt da nichts anderes heraus als Zusammenschustern einer Erklärung „nach Kochrezept“, die in Wahrheit nur ich mir selbst geben kann.

Trotzdem wird mir manchmal eine solche „Botschaft“ der Karten fremd bleiben und ich kann dann nichts über diese möglichen Ingredienzien meiner Seele lernen. Vielleicht liegt das dann daran, dass tatsächlich mehr Fremdes als Vertrautes auf der Karte zu sehen ist. Vielleicht ist aber auch nur mehr Unbewusstes als Bewusstes auf der Karte und ich kann – aus guten Gründen des Selbstschutzes – das alles noch nicht als integralen Bestandteil meiner selbst zuzulassen.

Nehmen wir noch einmal den Narren. Was ist denn zum Beispiel von den vereisten Gipfeln im Hintergrund zu halten? Alles nur Deko? Oder bin ich möglicherweise auch das: kalt, entrückt, unnahbar? Spiele ich vielleicht nur den unbeschwerten oberflächlichen Toren, damit niemand merkt, wie weit abseits ich von „den Menschen im Tal“ bereits stehe? Es gilt abzuwägen, ehrlich zu sich selbst sein, manchmal auch nur darum: probeweise eine Hypothese anzunehmen, dass das ebenfalls mein Innerstes darstellt. Und dann abwarten, was das mit mir anstellt.

Mit der Frage „Was auf dieser Karte bin ich selbst?“ stoßen wir in Bereiche der Interpretation vor, die ganz fremd erscheinen und oft recht weit weg von den „überlieferten“ Bedeutungen sind. Manchmal vielleicht auf das krasse Gegenteil dessen hindeuten, was das „kleine weiße Büchlein“ schreibt, das sich bei meinem Stapel Tarotkarten befand. Willkommen auf der Reise in die Tiefe der Psyche!

An dieser Stelle werde ich übrigens wieder etwas milder, was die vielen „Klone“ des Waite-Smith Tarots oder die unzähligen Fantasy-, Hexen-, Mystik- usw. Tarots betrifft. Aus kreativer Sicht mögen so manche von ihnen recht mageres „Futter“ abgeben, weil die Hersteller es sich so offensichtlich einfach gemacht haben. Aber. Und das ist tatsächlich ein großes aber: Wenn es den Karten gelingt, dass man sich nicht nur in sie hinein versetzen kann, sondern umgekehrt herum die Bilder der Karten in sich selbst hinein lassen kann, dann ist schon eine Menge gewonnen. Es ist die Kunst von mit Symbolen aufgeladenen Bildern, dass sie in der Lage sind, unsere Abwehr-Bollwerke zu überwinden und wir sie nicht nur hineinlassen, sondern auch den Gedanken zulassen, dass ihre belebten und unbelebten Wesen vielleicht schon immer in uns enthalten waren

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