4. Psychologie im Tarot: Wo befinden wir uns im Tarot, psychologisch gesehen?

Dieser und der folgende Beitrag behandeln die Grundlagen dessen, was ich unter „psychologischem Umgang“ mit dem Tarot verstehe.

Die beiden Grundlagen-Themen sind einmal die Art und Weise, aus welcher psychologischen Perspektive wir die Karten und die dort gezeigten Szenen betrachten. Das zweite Thema (im nächsten Beitrag behandelt) kreist um unser Verständnis dessen, was wir „Zufall“ nennen und die Frage, ob wir uns damit ein Problem einhandeln oder nicht.

Neben vielen anderen Zugangsmöglichkeiten und Dimensionen wie Kaballa, Astrologie, Numerologie, überlieferte Bedeutungen usw. (ob diese nun den Karten inhärent sind oder zu späteren Zeiten clever dazu komponiert wurden sei egal) haben wir es beim Tarot stets und zuallererst mit Bildern zu tun. („Ach was!“) Im Falle des Waite-Smith und praktisch aller anderen modernen Tarots haben wir 78 szenische Bilder zur Verfügung. Liebhaber des Tarot de Marseille mussten sich bei den kleinen Arkanen immer schon mit Numerologie (Zahlenmystik) in purer Form herumschlagen. Für die folgende Vertiefung wähle ich das Waite-Smith Tarot aufgrund seiner besonders reichhaltigen und „lebensnahen“ Symbolik. Bei jedem dieser Bilder können wir mindestens zwei Perspektiven einnehmen:

  1. Diese Karte zeigt etwas, das außerhalb von mir passiert (und selbstverständlich Auswirkungen auf mich hat).
  2. Diese Karte zeigt etwas innerhalb von mir. Das ist besonders dann eine sehr spannende Perspektive, wenn es mehr als zwei Akteure auf der Karte gibt, etwa bei der Kraft. Dann ist ein Teil von mir (die Frau) dabei, einen anderen – wilderen! – Teil (den Löwen) zu zähmen.
  3. Mischformen, sobald mehr als ein „Akteur“ auf der Karte erkennbar ist. Das gilt auch bei Karten wie den „3 Schwertern“: Hier kann ich selbst das Herz sein, das durchbohrt wird, ich kann aber auch derjenige sein, der mit Hilfe der drei Schwerter das Herz (eines anderen Menschen) durchbohrt. Vielleicht bin ich – bzw. ein wichtiger innerpsychischer Teil von mir – aber auch die Schwerter selbst?

Die Grundfrage ist immer: Was auf dieser Karte bin ich selbst, was gehört zu mir, ist ein Teil von mir? Wo ist mein innerer kleiner Hund, der mich instinktiv warnt, wenn ich mich wie der Narr gefährlichen Klippen nähere? (Die Gefahr der Klippe in unmittelbarer Nähe des Narren ist übrigens eine der vielen genialen Neuerungen des Waite-Smith-Decks.) Was in mir sind die Abgründe und die Klippen? Ist das ein stabiles Bild, tanze ich zwischen den Abgründen im sicheren Wissen, dass mich meine Schutzmechanismen – der kleine weiße Hund – vor dem Absturz bewahren werden? Oder ist das eine Karte des dynamischen Übergangs, die nur einen Augenblick vor dem Verhängnis „fotografiert“ wurde? Und wenn sogar die Abgründe zu mir selbst gehören sollten: Vielleicht wäre es zwar närrisch, aber im Ende gar nicht so falsch, mich in sie fallen zu lassen? Vielleicht sind das verdrängte Themen aus Kinderzeiten, in die man jetzt, als erwachsener Mensch ohne Angst (und das ist die frappierendste Eigenschaft des Narren: er hat ganz offensichtlich keinerlei Angst!) hineinstolpern darf?

Wir sehen, mit nur einer einzigen unschuldigen Frage, „Was auf dieser Karte bin ich selbst?“ bewegt man sich sofort meilenweit weg von wahrsagerischen Deutungen und hin zu sehr intimen, ganz  persönlichen Themen. Zu einer psychologischen Perspektive. Und es liegt ganz und gar an mir, wie weit ich dabei gehen möchte, wie viel von dieser Karte ich „verdauen“ kann oder bereit bin als einen Spiegel meiner Seele zuzulassen.

Das ist übrigens auch der Grund, warum ich es für keine besonders gute Idee halte, sich die Karten von jemand anderem legen (und deuten!) zu lassen: Oft kommt da nichts anderes heraus als Zusammenschustern einer Erklärung „nach Kochrezept“, die in Wahrheit nur ich mir selbst geben kann.

Trotzdem wird mir manchmal eine solche „Botschaft“ der Karten fremd bleiben und ich kann dann nichts über diese möglichen Ingredienzien meiner Seele lernen. Vielleicht liegt das dann daran, dass tatsächlich mehr Fremdes als Vertrautes auf der Karte zu sehen ist. Vielleicht ist aber auch nur mehr Unbewusstes als Bewusstes auf der Karte und ich kann – aus guten Gründen des Selbstschutzes – das alles noch nicht als integralen Bestandteil meiner selbst zuzulassen.

Nehmen wir noch einmal den Narren. Was ist denn zum Beispiel von den vereisten Gipfeln im Hintergrund zu halten? Alles nur Deko? Oder bin ich möglicherweise auch das: kalt, entrückt, unnahbar? Spiele ich vielleicht nur den unbeschwerten oberflächlichen Toren, damit niemand merkt, wie weit abseits ich von „den Menschen im Tal“ bereits stehe? Es gilt abzuwägen, ehrlich zu sich selbst sein, manchmal auch nur darum: probeweise eine Hypothese anzunehmen, dass das ebenfalls mein Innerstes darstellt. Und dann abwarten, was das mit mir anstellt.

Mit der Frage „Was auf dieser Karte bin ich selbst?“ stoßen wir in Bereiche der Interpretation vor, die ganz fremd erscheinen und oft recht weit weg von den „überlieferten“ Bedeutungen sind. Manchmal vielleicht auf das krasse Gegenteil dessen hindeuten, was das „kleine weiße Büchlein“ schreibt, das sich bei meinem Stapel Tarotkarten befand. Willkommen auf der Reise in die Tiefe der Psyche!

An dieser Stelle werde ich übrigens wieder etwas milder, was die vielen „Klone“ des Waite-Smith Tarots oder die unzähligen Fantasy-, Hexen-, Mystik- usw. Tarots betrifft. Aus kreativer Sicht mögen so manche von ihnen recht mageres „Futter“ abgeben, weil die Hersteller es sich so offensichtlich einfach gemacht haben. Aber. Und das ist tatsächlich ein großes aber: Wenn es den Karten gelingt, dass man sich nicht nur in sie hinein versetzen kann, sondern umgekehrt herum die Bilder der Karten in sich selbst hinein lassen kann, dann ist schon eine Menge gewonnen. Es ist die Kunst von mit Symbolen aufgeladenen Bildern, dass sie in der Lage sind, unsere Abwehr-Bollwerke zu überwinden und wir sie nicht nur hineinlassen, sondern auch den Gedanken zulassen, dass ihre belebten und unbelebten Wesen vielleicht schon immer in uns enthalten waren

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