Wenn wir nun akzeptieren, dass alles auf einer Tarotkarte mit uns selbst zu tun haben kann – sei es als das, was uns umgibt und beeinflusst, sei es ein Teil unserer Selbst und dass es zudem von Bedeutung für uns ist, was uns der Zufall da präsentiert – dann können wir anfangen, die Karten zu lesen.
Ich möchte zunächst mit einzelnen Karten anfangen und die oft recht komplexen Wechselwirkungen für später aufschieben. Komplexe Legesysteme wie das „keltische Kreuz“ verleiten gerne zu einer Banalisierung der Bedeutung der einzelnen Karten, weil ja bereits eine gehörige Portion Komplexität durch das Legesystem selbst ins Spiel gebracht wird. Ich kenne kaum eine Fragestellung, für die nicht eine einzelne Karte aus dem Waite-Smith (oder einem vergleichbar komplexen) Tarot genügen würde, wenn man sich nur richtig mit ihr auseinandersetzt.
Gehen wir also davon aus, dass wir uns eine einfache „Tageskarte“ ziehen. Im Folgenden werde ich mich an den Waite-Smith-Karten orientieren, die hier beschriebenen Methoden funktionieren natürlich auch mit vielen anderen Decks (besonders mit den unzähligen Waite-Smith-Klonen).
Da liegt sie also.
Was ist unser erster Eindruck? Ist die Karte fröhlich, mystisch, bedrückend, geheimnisvoll, sachlich, irgendwie merkwürdig, lustig, positiv, unheimlich, kraftvoll, unbeschwert, starr, abstrakt, tröstlich, ambivalent, niedlich, depressiv, weise, spannend, erschütternd, nachdenklich, unklar? Beim ersten Eindruck sind noch keine Details relevant, es geht nur darum, wie die Karte ganz spontan auf uns wirkt.
Wenn Sie sich etwas unsicher sind oder zum Vergessen / Verdrängen neigen: Schreiben Sie sich einfach das erste Adjektiv auf, dass Ihnen beim Anblick der Karte einfällt.
Dann untersuchen Sie den Hintergrund. Welche Farbe hat der Himmel und der Boden, ist das eine Wüste oder eine Küste am Meer, Scheint die Sonne oder der Monde oder andere Himmelskörper? Wie könnte man den symbolischen Charakter der Landschaft beschreiben? Waren Sie schon einmal in einer emotionalen Wüste? In einer gedanklichen? Einer Wüste der fehlenden Aufgaben? Wofür stehen vereiste Gipfel? Für emotionale Kälte? Für intellektuelles „Überschreiten der Schneegrenze“? Für den Gipfel dessen, was wir erreichen können?
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in dieser Landschaft. Wie fühlen Sie sich dabei? Entspannt? Unsicher? Genießen Sie es oder fühlen Sie sich dort eher unwohl? Beachten Sie dabei noch gar nicht die Figuren, ob Mensch, Tier oder höheres Wesen, sondern versuchen Sie sich rein auf die Landschaft zu konzentrieren und wie es Ihnen dabei geht.
Gehen Sie dabei vom Gesamteindruck langsam weiter zu Details. Steht da vielleicht ein Baum (oder mehrere)? Andere Pflanzen? Wege? Wie sieht das Wetter aus, haben wir Wind, stehen Wolken am Himmel, usw.? Gibt es Gewässer, wenn ja: ist das ein Meer, ein Tümpel, ein Fluss? Haben wir spiegelglattes Wasser oder „raue See“? (Oder sogar beides, wie links und rechts vom Boot der „6 Schwerter“?) Ist überhaupt ein Boden zu sehen? Ist der Himmel zu sehen? Was macht das alles mit Ihnen? Sprechen Sie aus, was Sie fühlen oder machen Sie sich wieder Notizen, wenn das für Sie hilfreich ist.
Ist Ihnen die Schnecke bei den 9 Scheiben aufgefallen?
Die Schnecke ist ja bereits einer der „Akteure“ in der Landschaft, das ist unser nächstes Ziel: Welche Menschen, Tiere, Engel und andere Wesen befinden sich auf der Karte? Achten Sie auch auf die Anzahl – ist es nur eine Figur, sind es zwei, drei oder mehr? Wenn es mehr als eine ist, dann suchen Sie sich eine aus, die Sie spontan „anspricht“ (ansonsten gibt es ohnehin keine Wahl) und stellen Sie sich vor, dass Sie diese Figur sind. (Das kann übrigens auch die Schnecke auf der Karte „9 Scheiben“ sein!)
Achten Sie dabei zunächst auf die Körperhaltung: Was sagt sie aus? Nehmen Sie ruhig selbst ebenfalls diese Körperhaltung ein, versuchen Sie dabei auch die Mimik (sofern erkennbar) zu imitieren. Wie fühlt sich das an? Erinnern Sie sich noch, wie Sie die Landschaft gespürt haben? Verbinden Sie jetzt beides: Sie sind diese Figur in dieser Landschaft.
Wenn es weitere Figuren gibt: Findet da eine Interaktion zwischen Ihrer Figur und der/den anderen statt? Ist die Interaktion noch in vollem Gange oder bereits vorbei? Oder können Sie erahnen, dass es hier noch eine Interaktion geben wird? Was passiert da? Ist das freundlich, liebevoll, feindselig, abwehrend, unterstützend, usw. Wer macht was? Wie wird es nach der „Momentaufnahme“ weitergehen, die die Karte zeigt?
Und wieder: Sprechen Sie darüber (wenn Sie z.B. mit Ihrem Partner/Partnerin gemeinsam Karten ziehen), schreiben Sie die Ergebnisse auf. Das „Eintauchen“ in die Szenerie und die Identifikation mit einer der Figuren ist der wichtigste erste Schritt für einen psychologischen Umgang mit den Karten. Fürs Erste haben wir auch noch keine konkreten „Fragen an die Karten“ gestellt, wir wollen unsere hilfreichen Ratgeber erst einmal kennen lernen.
Als Übung können wir jeden Tag (oder auch morgens und abends) eine Karte zufällig ziehen und uns in der oben beschriebenen Weise mit ihr auseinandersetzen.
Im nächsten Schritt werden wir noch etwas tiefer einsteigen und uns nicht nur mit einer einzelnen Figur identifizieren, wir werden uns sogar mit den scheinbar „unbelebten“ Teilen der Karte identifizieren und feststellen, dass diese „multiplen Persönlichkeiten“ die Komplexität, aber auch die Einsichts-Möglichkeiten deutlich steigern.
Noch etwas später werden wir abwägen, ob und welche „symbolischen“ Ebenen der Karten wir mit einbeziehen möchten. Und schließlich können wir anfangen, mit mehr als nur einer einzelnen Karte zu arbeiten: Das ist dann nicht einfach eine lineare Steigerung der Komplexität, sondern wir beginnen unser Augenmerk auf die zahllosen Verbindungen und Querverweise zwischen den Karten zu legen.
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