Karte im Detail: Der Mond

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Ein Hund und ein Wolf heulen gemeinsam den Mond an.

Mit Hund und Wolf haben wir ein vertrautes Paar vor uns, dem wir dennoch noch immer mit vielen Vorurteilen und viel Unwissen begegnen. Viele Menschen haben Angst vor Wölfen und beobachten die ersten zaghaften Wiederansiedelungsprojekte in unseren Wäldern mit großem Misstrauen. Landwirte, die unter medialer Anteilnahme herbe Verluste in ihren Schafherden beklagen sind rasch zur Stelle, meist gefolgt von besorgten Eltern, die um die Sicherheit ihrer schutzlosen Kinder bangen. Der Wolf ist kein gern gesehener Gast bei uns.

Dabei war es mit Sicherheit kein Zufall, dass der Mensch vor etwa 100.000 Jahren begann, mit Wölfen und deren Nachfahren enger zusammenzuleben als mit jedem anderen Tier. Die Schätzungen für den Zeitpunkt der einsetzenden Domestizierung des Wolfes schwanken beträchtlich, die eingangs genannten 100.000 Jahre stammen aus einer Analyse von Hunde-Erbmaterial (DNA). Fossile Knochenfunde, die mit heutigen Hunden besser als mit  Wölfen übereinstimmen, sind immerhin zwischen 33.000 und 40.000 Jahren alt, stammen also aus der Endphase der sogenannten Altsteinzeit. Selbst 33.000 Jahre sind unvorstellbar lange her, möglicherweise besaßen wir damals noch nicht einmal so etwas wie eine Sprache, von der manche Forscher glauben, dass sie sich erst im Zuge der einsetzenden Sesshaftwerdung entwickelt hat. Die zuvor nomadische Lebensweise wurde zugunsten von Ackerbau und Viehhaltung aufgegeben, und vielleicht waren die gezähmten Wölfe zunächst bei der Jagd, später beim Schutz der neu entstehenden Behausungen und Tierherden nützlich.

Die Entwicklung des Hundes aus dem Wolf (bzw. dessen Vorfahren) ist ein kulturelles Erbe der Menschheit, das deutlich älter ist als selbst die ältesten uns bekannten Höhlenzeichnungen – die 40.000 Jahre alte Cueva de El Castillo in Spanien oder die berühmten 15.000-36.000 Jahre alten Höhlenmalereien von Lascaux in Frankreich!

Es dürfte übrigens nicht nur die Wehrhaftigkeit dieser Tiere gewesen sein, sondern vor allem auch das ausgeprägte Sozialverhalten der Wölfe, die diese einzigartige Verbindung mit uns Menschen ermöglicht hat. Bloch z.B. schildert aus seinen Beobachtungen in freier Wildbahn, dass sich Timberwölfe um verletzte Tiere ihres Familienverbandes kümmern, die ohne diese Hilfe mit Sicherheit verenden würden.

Und so verweisen ein domestizierter Hund und ein wilder Wolf gemeinsam auf einem Bild (in Natura übrigens kaum vorstellbar) auf die beiden vorläufigen Endpunkte auf der Achse einer viele zehntausend Jahre langen Entwicklung, die diese Caniden gemeinsam mit uns Menschen durchlebt haben. Gemeinsam, weil sich nicht nur der Wolf zum Hund entwickelt hat, sondern auch wir selbst uns in diesem Zeitraum massiv verändert haben. Die bereits erwähnte Sprache, die wir uns seither angeeignet haben ist sicher mehr als nur ein Indiz für diese Veränderung: Es geht um Kommunikationsfähigkeiten, bei uns Menschen wie beim Hund. Im Vergleich zu Wölfen weisen Hunde ein deutlich ausgefeilteres Repertoire an Äußerungsmöglichkeiten auf – wer länger mit einem Hund zusammenlebt, kann bestimmt dutzende unterschiedliche Arten von Bellen, Wuffen, Knurren, Fiepen, Grunzlauten usw. unterscheiden, die einzig und alleine dem Zweck dienen, sich mit uns zu verständigen.

So sehen wir mit diesen beiden Tieren also auch unsere eigene Entwicklung quasi wie ein Spiegelbild vor uns und mögen uns daran erinnern, dass wir neben dem kulturell überformten modernen Menschen mit Smartphone, Rußpartikelfiltern und veganen Fastfood-Restaurants auch noch eine ursprüngliche Tier-Natur in uns tragen, mit Instinkten, einem uns bewusst nicht zugänglichen autonomen Nervensystem, das alle körperlichen Automatismen in uns regelt, unserem limbischen System, das unter anderem die Emotionen und Triebe steuert und dem, was die Tiefenpsychologie klassischerweise „das Unbewusste“ nennt.

Weitere Hunde im Tarot

Neben dem Mond gibt es nur noch zwei weitere Karten im Waite-Smith-Tarot, in der Hunde dargestellt werden: ein kleiner Spitz oder Terrier beim Narren und zwei Jagdhunde (vermutlich Bracken, aufgrund der langen Nasen könnten es auch Windhunde – Greyhounds oder Whippets – sein) bei der 10 der Münzen:

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Die beiden Karten zeigen in gewisser Weise die Endpunkte einer Lebensreise: Der jugendlich-unvoreingenommene Narr weiß offensichtlich gar nicht, in welch gefährlichem Gelände er sich bewegt – zu seinem Glück wird er von seinem Begleiter vor dem drohenden Abgrund gewarnt. Der Alte Mann auf den 10 Münzen dagegen hat sein Leben beinahe hinter sich. Er streichelt einen der Hunde, ein kleines Kind den zweiten – wird er der nächste „Narr“ werden? Die lebenslange Erfahrung des Alten und das unmittelbare Erleben des Kindes treffen sich bei der Zuneigung zu ihren vierbeinigen Begleitern. Ein Bild der Dankbarkeit und Liebe, und in jedem älteren Menschen steckt irgendwo noch genau dieses Kind mit seinem unmittelbaren Zugang zu allem Kreatürlichen dieser Welt.

Beide Bilder können wir – wie so oft im Tarot – durchaus ganz wörtlich nehmen und wer mit Hunden zu tun hat, dem wird dabei sicher das Herz aufgehen. Aber zugleich unterstreichen sie auch die Aussage auf der Karte „der Mond“, in der der Hund nicht nur für sich selbst steht, sondern zugleich auch für den Anteil an Bewusstheit, Kultur, Kommunikationsfähigkeit und „Zivilisation“ in uns, der über viele Jahrtausende gewachsen ist, und der uns hilft, diese schwierige Reise „Leben“ zu bestehen.

Doch zurück zu unserer Karte, dort gibt es noch mehr zu entdecken.

Der Kern der Dualität: Zwei Türme

Wandert unser Blick vom Vordergrund ziemlich genau in die Bildmitte, so sehen wir zwei Türme, die uns erneut im Hintergrund der Karte „XIII – Tod“ begegnen werden, aber auch in stilisierter Form als zwei Säulen bei der Hohepriesterin, bei dem Hierophanten und bei der Gerechtigkeit. Mit etwas Phantasie mag man auch die beiden Bäume auf der Karte die Liebenden oder die beiden Schwerter auf der 2 der Schwerter (oder generell den Zweier-Karten) dem gleichen Muster zuordnen. In allen Fällen handelt es sich um Darstellungen von Dualität.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Die Dualität von Hund und Wolf – kultureller und animalischer Natur wird auf das allgemeine Prinzip „Dualität“ ausgeweitet. Damit haben wir ein, wenn nicht das Grundthema spiritueller Wege vor uns. Wir sind in ein Leben geworfen, das sich in einem grundsätzlichen Spannungsfeld bewegt. Was in kleiner Skala die Dualität von Kultur und Natur ist, stellt sich in letzter Konsequenz als die Dualität zwischen uns selbst als Individuum und dem ganzen Rest des Universums dar. Uns als Menschen ist diese Trennung irgendwann im Laufe unserer Entwicklung ins Bewusstsein gesickert, eine Trennung, die z.B. nach Auffassung des Buddhismus letztlich eine Illusion und zudem eine Quelle von Leiden ist, die es zu überwinden gilt.

Alle anderen Formen der Dualität wie „männlich“ – „weiblich“, „yin“ – „yang“, „gut“ – „böse“, „Introversion“ – „Extraversion“, „geistig“ – „körperlich“ durchdringen zwar unseren Alltag, sind dagegen aber nur Banalitäten im Vergleich zur fundamentalen Dualität zwischen dem „Ich“, das ja bereits ein ganzes Universum in sich selbst trägt, eine Lebensgeschichte, Erinnerungen und Erwartungen, das sich selbst unmittelbar zu spüren imstande ist, das das „hier und jetzt“ zu erfahren imstande ist und auf der anderen Seite allem anderen, was von diesem „Ich“ getrennt ist. Und dieses Andere ist ja tatsächlich „alles andere“, ein unendlich großes Universum, das sich allerdings im Gegensatz zum „Ich“ der unmittelbaren Seins-Erfahrung entzieht: Wir können freilich jeden Gegenstand angreifen, aber damit spüren wir letztendlich nur unsere eigenen Rezeptoren (also wieder nur uns selbst!), ohne je zu wissen, wie es ist, eben jener Gegensand selbst zu sein. Auch wenn wir den Gegenstand in seine Teile zerlegen, es bleibt eine unüberwindbare Trennung zwischen uns selbst und diesem Gegenstand oder zwischen uns selbst und einem anderen Menschen oder einem Tier – ja selbst einen simplen Stein sind wir nicht in der Lage unmittelbar zu erfahren.

Haben Sie schon einmal von einem Spiegel geträumt? Der Spiegel ist ein schönes Sinnbild für eben diese Dualität: Diesseits des Spiegels stehen wir und alles, was wir von der Welt erfahren können sind nicht mehr als die Spiegelungen unserer Sinne. Nicht zufällig handelt ein berühmtes Kinderbuch davon, was das kleine Mädchen Alice erlebt, wenn es ihr gelingt in die Welt hinter den Spiegeln zu gelangen.

Den Dualismus finden wir übrigens nicht nur im Buddhismus, sondern als Grundgedanken auch in einigen großen religiösen Bewegungen wie den Manichäern, in der Gnosis oder bei den später grausam verfolgten christlichen Katharern. Ein guter Gott ist der Schöpfer der geistigen Welt (ist das nicht unsere „innere Welt“, zu der wir einzig unmittelbaren Zugang haben?) und ein böser Gott ist der Schöpfer der materiellen Welt. Eine materielle Welt, an der wir leiden, ja leiden müssen, weil ihr das Leid immanent ist und wir sie nie vollständig begreifen werden.

Was sehen wir noch?

Der Mittlere Weg

Der Mond: Mittlerer Weg. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Ein Pfad windet sich durch das Bild, beginnend im Wasser, das den Vordergrund einnimmt, zwischen Hund und Wolf und später zwischen den beiden Türmen hindurch, bis er schließlich in einer weit entfernten Gebirgslandschaft mündet. Ein weiter Weg, ganz ohne Zweifel aber auch schon rein optisch ein „mittlerer Weg“.

Der Mittlere Weg ist ein sehr altes Bild im Buddhismus. Auf einer noch recht praktischen Ebene taucht er bereits im Pali-Kanon auf und bedeutet schlicht die Vermeidung von extremen Lebensweisen, um als Mönch die Erleuchtung zu erlangen. Weder sollen wir uns dem Anhaften an die sinnliche Welt von Gier, Abscheu usw. hingeben, noch deren Gegenteil der extremen Askese und Selbstqual.

In späteren Jahrhunderten wurde daraus insbesondere durch Nagarjuna (ca. 2. Jh. n. Chr. in Indien) ein erkenntnistheoretischer Weg, der sich damit beschäftigt, wie die Dinge an sich beschaffen sind. Und hier gilt es wieder, extreme Positionen zu vermeiden:

Nichts existiert aus sich selbst heraus.

Bei näherer Betrachtung lässt sich tatsächlich alles in Einzelteile zerlegen, ist aus etwas anderem entstanden und wird wieder vergehen. Da ist kein „Computer“, vor dem wir sitzen, sondern etwas, das sich noch während wir damit hantieren verändert, altert und schließlich vergehen wird (im Falle des Computers normalerweise zu einem dafür maximal unpassenden Zeitpunkt).

Andererseits ist dieser Computer aber auch keine Illusion unseres Geistes. Der Computer ist schon irgendwie „da“! Wir leben nicht in einer Welt wie im Film „Die Matrix“, die uns nur vorgaukelt, real zu sein. Zu glauben, alles sei nur eine Illusion wäre im Sinne Nagarjunas die andere Extremposition, die wir vermeiden sollten.

Die Buddhisten der aus Nagarjunas Lehren hervorgegangenen Mahayana-Schule kamen zu dem Schluss, dass alles (auch wir selbst!) keine Existenz aus sich selbst heraus besitzt, sondern immer aus anderen Dingen entstanden sind, die freilich ebenfalls keine eigene Existenz aus sich selbst heraus besitzen. Der Computer wurde aus seinen Einzelteilen zusammengebaut, aber auch diese Einzelteile wurden einmal hergestellt, die Rohstoffe dafür sind nicht einfach „da“ gewesen, sondern durch chemische Prozesse entstanden, die Elemente dieser Rohstoffe sind irgend wann einmal in einer Sonne aus einfacheren Elementen wie Wasserstoff und Helium „erbrütet“ worden, die Sonnen wieder sind durch Zusammenballungen von gigantischen Gaswolken entstanden, die so massereich waren, dass die Energie ihrer Schwerkraft zur Kernfusion gereicht hat, die Gaswolken usw. usw.

Und auch in Zukunft wird das so weiter gehen. Übrigens nicht nur für unseren armen PC, sondern auch für das, was wir für uns selbst halten. Wir werden sterben, das ist trivial, aber zuvor werden wir uns laufend weiter verwandeln, wie wir das schon seit Kindertagen getan haben. Oder sind Sie tatsächlich der gleiche Mensch wie mit 3 Jahren? Wir glauben das irgendwie, aber tatsächlich haben wir uns seit dem Alter von 3 Jahren nicht nur körperlich komplett verändert (viele unserer Zellen leben nur wenige Tage bis Wochen), sondern auch in unserem Bewusstsein. Unser „Ich“ mit 3 Jahren gibt es schon lange nicht mehr. Wir erinnern uns nur noch daran.

Trotzdem existieren wir natürlich, wir bilden uns das nicht nur ein. Aber das, was da existiert ist eher als ein Prozess zu begreifen, etwas das sich aufgrund vielfältiger Ursachen (die den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie wir selbst unterworfen sind) immer weiter verändert. Diese Art der Existenz wird als „Leerheit“ bezeichnet, weil sie nicht aus sich selbst heraus da ist, sondern immer als das abhängige Ergebnis von etwas anderem entsteht.

Es ist kein Zufall, dass dieser mittlere Weg in ein Gebirge führt – ein Sinnbild für höhere geistige Erkenntnis.

Noch weiter zurück

Der Krebs steigt aus dem Wasser. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Wenn wir den Weg zu seinem Ursprung zurückverfolgen, sehen wir einen ziemlich großen Krebs oder Hummer, der eben aus dem Wasser im Vordergrund krabbelt und sich auf den oben beschriebenen Pfad begibt.

Der Krebs ist ein entwicklungsgeschichtlich sehr altes Tier. Krebse gibt es seit dem Beginn des Paläozoikums vor über 500 Millionen Jahren. Bis zum Erscheinen der ersten Vorformen von Säugetieren würde es noch mindestens 200 Millionen Jahre dauern. Das ist – selbst angesichts der bereits beleuchteten 100.000 Jahre dauernden gemeinsamen Geschichte von Mensch und Hund/Wolf ein unglaublich langer Zeitraum.

Auch mit diesen sehr ursprünglichen Lebensformen teilen wir ein gemeinsames Erbe aus unserer evolutionären Entwicklung, aber vieles erscheint und denkbar fremd: Fühler, viele Gliedmaßen, ein Außenskelett statt unserer Knochen, anders aufgebaute Sinnesorgane und ein völlig anders organisiertes Gehirn. Ein „Alien“ gewissermaßen, das sich uns da zeigt.

Schieben wir die Biologie etwas beiseite und betrachten nur das von Pamela Colman Smith (die ganz gewiss keine Evolutionsbiologin war) gemalte Bild: Der Krebs steigt aus einem Gewässer, in dem wir im Gegensatz zum „Landleben“ darüber noch keinerlei Anzeichen der Dualität erkennen können. Alles ist eins. Auf dieser archaischen Stufe gibt es noch keine Dualität. Wir tragen ein uraltes „Erbe“ in uns, das älter ist, als die für uns heute allumfassende Dualität.

Tradition ist Schlamperei…

… meinte einst der Komponist und Dirigent Gustav Mahler über allzu bequem gewordene Arten, mit der Musik vergangener Jahrhunderte umzugehen.

Dabei wären die traditionellen, selbst die psychologisch angehauchten Deutungen der Karte „der Mond“ doch so einfach: Gemäß der heute üblichen naiven Betrachtung der Karte geht es um Ängste, das Unbewusste, Nacht, vielleicht auch um die hilfreichen (Hund) und die bedrohlichen (Wolf) Gefährten bei einer solchen Nachtmeerfahrt ins Unbewusste. Wie der Wolf ist die Karte „Der Mond“ dann auch kein allzu gern gesehener Gast, wenn man sie denn zieht.

Nun ist tatsächlich eine der wichtigsten Aufgaben eines spirituellen Weges, sich dem zu stellen, was uns ängstigt, was uns fremd und vielleicht unheimlich ist und zu erkennen, dass das alles im Grunde aus unserem Innersten stammt. Insofern ist die triviale Deutung „Mond = Ängste“ nicht völlig unsinnig.

Dennoch handelt die Karte „Der Mond“ weder von Ängsten noch vom Unbewussten.

Sie handelt davon, einen mittleren Weg zu finden, der uns nicht nur Extreme vermeiden lässt, sondern uns als spiritueller Pfad möglicherweise auch die Dualität und das mit ihr verbundene Leiden überwinden lässt. Der Krebs ist ein Hinweis darauf, dass wir das alles eigentlich schon längst wissen – irgendwo, in einer tief verborgenen Schicht unserer Seele.

Ich hoffe auf Nachsicht, wenn ich an dieser Stelle erneut auf den Buddhismus verweise: In der Dzogchen-Lehre der Nyingma-Schule des Buddhismus wird davon ausgegangen, dass es eine wahre, ursprüngliche Natur des Menschen jenseits der Dualität gibt, die es mit Hilfe fortgeschrittener Meditationstechniken „nur noch“ zu entdecken gilt. Ach ja, wenn das mal so einfach wäre…

Und was ist jetzt eigentlich mit dem Mond los?

Wir haben viele Aspekte dieser außergewöhnlich komplexen Karte betrachtet, aber noch kein Wort über den Mond verloren! Und der sieht zunächst überhaupt nicht aus wie ein Mond.

Wir sehen ein kreisrundes Gebilde, das von einem Strahlenkranz mit 32 Strahlen umrahmt ist. Ist das eine Sonne? Strahlen werden in keinem mir bekannten Bild für eine Darstellung des Mondes verwendet, aber sehr häufig für die Sonne. In dem Gebilde befindet sich ein Gesicht (das „Mondgesicht“?) und am oberen rechten Rand sehen wir eine Sichel, die eine Mondsichel sein könnte. Ist das eine (partielle) Sonnenfinsternis, in der sich der Mond vor die Sonne schiebt? Und dann gibt es noch die 15 „Tropfen“, die von dieser Sonne/Mond-Konstellation herab zu regnen scheinen. Wenn ich selbst einen Mond darstellen müsste, würde mir wahrscheinlich nicht dieses sehr spezielle Bild einfallen…

Ist da vielleicht die Phantasie mit Pamela Colman Smith durchgegangen?

Interessanterweise ist die Bildkomposition beinahe 1:1 identisch mit derjenigen, die wir bereits im viel älteren Tarot de Marseille finden: Ein Krebs steigt aus dem Wasser, Hund und Wolf (oder zwei Hunde), dahinter zwei Türme und darüber diese merkwürdige Darstellung von Sonne und Mond, aus der Tropfen herabfallen. Selbst Aleister Crowley und Lady Frieda Harris, sonst kaum um eine originelle neu-Deutung der Symbolik verlegen, greifen auf eine nahezu identische Bildkomposition zurück. Lediglich Hund und Wolf sind durch ägyptische Anubis-Figuren ersetzt. Geschenkt.

Lassen wir die Anzahl Strahlen und die Anzahl der herabfallenden Tropfen einmal außen vor – auch dafür gibt es Erklärungen, die auf die Zahlensymbolik der Kabbalah verweisen, ebenso wie die Form der Tropfen, die dem hebräischen „Jod“ ähneln.

Wirklich erstaunlich ist doch: Eine Karte soll den Mond darstellen. Das wird über ein Bild der Sonne versucht! Das ist merkwürdig, oder?

Tatsächlich würden wir niemals etwas vom Mond wahrnehmen, wenn es die Sonne nicht gäbe. Der Mond wäre nichts als eine unauffällige dunkle Scheibe, von deren Existenz wir nur deshalb Kenntnis hätten, weil sie andere, entferntere Himmelskörper regelmäßig verdeckt. Was wir tatsächlich sehen: einen zu- und abnehmenden, nachts hell leuchtenden Mond, verdanken wir ausschließlich der nächtlichen Reflexion der Sonnenstrahlen auf der Mondoberfläche.

Umgekehrt ist der – im Vergleich zur Sonne extrem winzige – Mond in der Lage, diese bei einer Sonnenfinsternis komplett zu verdecken. Ein bizarres Gleichgewicht der Kräfte, obwohl die beiden Himmelskörper extrem unterschiedlich ausgeprägt sind.

Und damit sind wir unvermittelt wieder beim Grundthema der Dualität (und der Karte „Der Mond“): Mond und Sonne, vollkommen unterschiedlich und doch gegenseitig abhängig, wie wir selbst als Individuum gegenüber dem Rest des Universums. Als Sinnbild für die allgegenwärtige Dualität und deren mögliche Auflösung ist die Darstellung einer Mondfinsternis bestimmt keine schlechte Idee.

Was fehlt noch?

Die übliche Übung von TarotPsychologie.de: Versuchen Sie sich hineinzuversetzen, wie es ist, der Hund auf der Karte zu sein. Oder der Wolf – was ist anders? Und wie fühlt es sich an, als archaischer Krebs aus dem Wasser zu steigen?

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. http://www.koenigsfurt-urania.com/

Karte im Detail: Die Sonne

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Die Sonne, so wie sie von Pamela Colman Smith gezeichnet wurde, ist eine frappierende Darstellung des „Kind-Archetypus„, wie ihn C. G. Jung beschrieben hat [C. G. Jung: Zur Psychologie des Kindarchetypus, 1940 in Edition C. G. Jung Bd. 9/I]. Die Sonne selbst, generell runde Symbole, z.B. die Sonnenblumen im Hintergrund gehören ebenso zu diesem Archetypus wie auch die Unterstützung durch ein hilfreiches Tier. Überhaupt Tiere: Der Tarot von Pamela Colman Smith und Arthur Edward Waite wimmelt ja im Grunde von Tieren: Fische, Vögel, jede Menge Pferde, Schlangen, eine Katze, ein Krebs, eine Schnecke, ein Wolf, ein paar Fabelwesen und natürlich einige Hunde. Bevor wir in die übliche Analyse von Szenerie und Akteuren auf der „Bühne“ der Karte einsteigen, möchte ich den Kind-Archetypus noch etwas vertiefen (oder auch vertiefenpsychologisieren, wenn man so will).

Ein kurzer Ausflug in die Tiefenpsychologie von C. G. Jung.

Im Sinne eines Kind-Archetypus sollten wir etwas näher auf eine der berühmtesten „Kind“-Geschichten überhaupt einzugehen – gemeint ist natürlich das Christkind und die ganze darauf folgende höchst dramatische Entwicklung von Christus als Erlöser bis zum Opfertod am Kreuz und weiter. Der Beginn dieser Geschichte allerdings liegt in einer Krippe, neben der wir Ochs und Esel als hilfreiche Tiere finden. Die Natur selbst scheint das kostbare Kind zu schützen.

Das Wesen des Kind-Archetypus gehört allerdings zu den „schwierigeren“ Archetypen, die man bei C. G. Jung finden kann, es wird schon einigermaßen mystisch: Der Ursprung des Kindes liegt im leidvollen Konflikt einer Dualität (nämlich zwischen dem entwicklungsgeschichtlich vergleichsweise jungen Bewusstsein und dem uralten Unbewussten). Daraus schafft unser Unbewusstes etwas Drittes, Irrationales – und das ist das Kind mit der wundersamen Geburt. Der Legende nach ist übrigens die Geburt Gautama Buddhas nicht weniger wundersam als die von Jesus Christus.

Wir finden zunächst ein gefährdetes (und in anderen Mythen sogar verlassenes) Kind. Es steht zwischen dem Unbewussten, das unser (aus der Entwicklungsgeschichte noch ziemlich junges) Ich wieder in seine Nacht zu verschlingen droht und dem Bewusstsein (für das es übrigens nur Dualität – schwarz und weiß – gibt). Das Kind aber ist aufgrund seiner Zwischenstellung ein „Drittes“, noch dazu entstanden aus dem Unbewussten, und damit für das Bewusstsein dann ganz und gar irrational und bedrohlich.

Das Kind hält dabei wacker sein Banner hoch, denn seine Aufgabe ist die des Kulturbringers, für das das lodernde „Feuer“ des roten Banners (und der roten Feder) ein archaisches Symbol ist. Das Bewusstsein muss sich weiter entwickeln und wir sollten dabei in gewisser Weise wieder wie die Kinder werden.

Ganz schon abgefahren, oder?

Möglicherweise ist diese tiefenpsychologische Sicht arg weit hergeholt. Kein Beweis, aber ein gewisser Hinweis auf das archetypische Geschehen im Hintergrund mag allerdings sein, dass die Szenerie der Karte bei spontaner Betrachtung auf uns ganz überraschend „normal“ wirkt: Immerhin sitzt da ein Kleinstkind nackt mit einem riesigen Banner auf einem Pferd vor einer ins gigantische vergrößerten Sonne. Ja aber hallo, geht’s denn noch? Wie würden Sie reagieren, wenn Sie so etwas in Ihrem Garten vor dem Sonnenblumen-Beet sehen würden? Ich zumindest würde vermutlich panisch Rettungsdienst, Feuerwehr, Polizei und Jugendamt verständigen und zusehen, dass dem armen Kind nichts passiert.

Stattdessen wirkt die Karte sehr fröhlich und optimistisch auf uns. Also ist es Pamela Colman Smith mal wieder gelungen, tiefere Schichten in uns ohne Umweg über unseren unzuverlässigen Verstand anzusprechen. Und wir scheinen spontan zu verstehen, dass das alles seine Richtigkeit hat. Was für eine bemerkenswerte Künstlerin! An ihrem Tarot hat sie leider nur lächerlich wenig verdient, und am Ende ist sie verschuldet und arm gestorben. Dabei hat sie DEN Tarot geschaffen, den nun wirklich JEDER kennt und der zudem Vorbild für zahllose mehr oder (fast immer) weniger inspirierte Klone war.

Aber zurück zu unserer Karte. Was sehen wir auf der „Bühne“ dieser Karte?

Ein blauer, wolkenloser Himmel mit einer übergroßen Sonne, darunter eine graue Mauer hinter der einige Sonnenblumen blühen, der Boden ist nicht zu sehen. Im Vergleich zu vielen anderen Karten wirkt die Szenerie relativ „flach“ und wenig räumlich gestaltet. Die Sonne trägt ein Gesicht mit neutraler Mimik und sendet 11 gerade sowie 10 gewellte Strahlen aus. Und dann gibt es noch einen „verunglückten“ halben gewellten Strahl, der aber offensichtlich nicht mehr komplett rechts neben die „XIX“ gepasst hat. Katz und Goodwin nennen ihn die „OSL“ – die „Oh Sh** Line“ [Marcus Katz, Tali Goodwin: Secrets of the Waite-Smith Tarot, Llewellyn, 2015].

Die 21 (oder doch 22?) Sonnenstrahlen erinnern uns an die Anzahl der großen Arkanen: Mit dem Narren (Null) sind es 22, ohne ihn 21. So ist das neunzehnte Arkanum so etwas wie die vorweg genommene Vollendung: Nach mir kommt nichts Entscheidendes mehr, ich enthalte bereits die Quintessenz der großen Arkanen. (Tatsächlich tun sich insbesondere die Anhänger der Theorie der „Heldenreise“ in den großen Arkanen regelmäßig schwer, für die beiden noch folgenden Karten einen auch nur halbwegs glaubhaften „Plot“ zu bestimmen – nach der Sonne passiert eigentlich nichts wirklich Neues mehr.)

Vor der Mauer befindet sich ein helles Pferd, auf dem ohne Sattel ein nacktes Kind sitzt – mit ausgebreiteten Armen und mit einem langen roten Banner in seiner linken Hand. Das Kind trägt eine Rote Feder auf dem Kopf, sowie einen Blumenkranz mit 6 „Mini-Sonnenblumen“ im blonden Haar. Ob das Kind ein Mädchen oder ein Junge ist, können wir nicht erkennen. Auch das passt wieder zum eher hermaphroditischen Charakter des oben besprochenen Kind-Archetypus.

Die Karte gibt zunächst eine Menge Rätsel auf, denn so weit weg von früheren Tarots (wie dem Tarot de Marseille, aber auch noch dem Tarot von Oswald Wirth) haben sich Smith und Waite eigentlich nur noch bei den Liebenden gewagt. Die Sonnenblumen sind dabei noch ein recht nahe liegendes Symbol für die Sonne, aber warum wurden die ursprünglich zwei Kinder durch ein einzelnes ersetzt? Und was soll das Pferd? Das rote Banner? Die rote Feder?

Die rote Feder.

Eine rote Feder finden wir in den großen Arkanen noch beim Tod (die in den meisten Tarotbüchern auch gleich als Partnerkarte der Sonne genannt wird), aber auch beim Narren (was, wie wir etwas später sehen werden, noch eine weit interessantere Parallele ist). Bei den kleinen Arkanen finden wir überhaupt keine roten Federn, dafür aber bei einigen Hofkarten: Der Ritter der Schwerter, der Bube der Stäbe und der Ritter der Stäbe tragen ebenfalls rote Federn als Kopfschmuck.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Was mag die Bedeutung dieser Federn sein? Es fällt zunächst auf, dass sämtliche Federn im Tarot von Smith und Waite rot sind – wie auch das Banner, welches das Kind auf der Karte „Die Sonne“ trägt. Damit sehen die Federn, die sich ja auch leicht im Wind bewegen können, alle ein wenig wie Flammen aus und könnten auf das Element Feuer weisen. Daneben sind die Federn aber auch aufgrund ihrer „Feder“-Leichtigkeit ein Symbol des Elements Luft. Die alten Ägypter ließen nach ihrem Tod ihre Herzen von der Göttin Maat gegen eine Feder aufwiegen – nur wenn das Herz gerecht und wahr war, wog es weniger als die Feder und der Verstorbene konnte ins friedvolle Jenseits eintreten. Maat selbst trug übrigens eine Straußenfeder auf dem Kopf.

Sehen wir uns die Form der Feder an: aufrecht bei der Sonne, schlaff herab hängend beim Tod und waagrecht – also sozusagen in ausgewogener, aber beschwingter Mittelposition – beim Narren. Ein ähnliches „Muster“ können wir bei den drei Hofkarten mit roter Feder erkennen.

Zuviel Aufmerksamkeit für so ein kleines Detail? Vielleicht. Andererseits ist die überdimensionierte Doppelung der Feder durch das rote Banner in der Hand des Kindes schon ein mehr als deutliches Zeichen (eher ein winkender Zaunpfahl), dass es sich um eines der wichtigeren Symbole auf dieser Karte handelt.

Mit dem Tod verbindet die Sonne natürlich noch das Pferd und das Tragen einer Flagge, bzw. eines Banners. Keine dieser „Requisiten“ existiert übrigens im Tarot de Marseille, weder beim Tod noch bei der Sonne. Aber auch mit dem Narren gibt es noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die ausgebreitete Haltung der Hände von Kind und Narr ist sehr ähnlich. Der Narr hat zudem mit seinem Hund ebenfalls ein hilfreiches Tier an seiner Seite. Es scheint fast, als wäre er das älter gewordene Kind aus der „Sonne“, das nun auf eigenen Füßen stehen kann und dessen tierischer Begleiter deshalb etwas kleiner sein darf.

Hinter Mauern.

Interessanterweise findet man im gesamten Tarot von Smith und Waite keine einzige weitere Mauer wie bei der Sonne. Und das ist erstaunlich, denn als erfahrene Theaterfrau war Pamela Colman Smith daran gewöhnt, ihre Requisiten beizeiten in anderen Szenen zu recyceln. Zahllose so entstandene Parallelen zwischen den Karten belegen das. Es scheint also, dass die Mauer ganz substanziell für die Karte „Die Sonne“ ist.

Andererseits, Requisiten werden auch im Theater oft übermalt – in diesem Fall müssen wir vielleicht nur mit etwas mehr Phantasie suchen? Bei den großen Arkanen fallen mir die Hohepriesterin und Gerechtigkeit ins Auge: An Stelle einer Mauer finden wir bei ihnen Vorhänge. Bei den kleinen Arkanen ist es die Hecke beim As der Münzen, heckenartige Weinstöcke bei der 9 der Münzen und schließlich das den Rest der Welt abschottende bodenlange Tischtuch bei der 9 der Kelche.

Ganz banal kann eine Mauer bedeuten: Das Kind auf dem Pferd ist eingesperrt. Armes Kind. Vielleicht hat es eine symbolische oder reale Grenze überschritten? Oder es befindet sich in einem vor der Außenwelt geschützten Raum?

Möglicherweise ist es aber auch ausgesperrt (oder getrennt) von all dem, was hinter der Mauer liegt. Und da könnte eine ganze Menge liegen. Wir werden das nachher noch näher betrachten.

Gerade und krumme Sonnenstrahlen.

Die Sonne sendet 11 gerade Strahlen aus. Und 10 „krumme“ oder gewellte. Nein, Moment, da ist noch dieser halbe Strahl, der nicht mehr ganz neben die römische XIX gepasst hat (Sie erinnern sich, die „Oh sh** Line“). Wir können also annehmen, dass ursprünglich 11 gerade und 11 gewellte Strahlen geplant waren, eine perfekte Balance, vielleicht aus „männlichen“ und „weiblichen“ Anteilen wie manche Tarot-Bücher wissen wollen oder aus ganz anderen wohl balancierten Gegensätzen (Bewusstem und Unbewusstem zum Beispiel…). Aber wir finden wieder eine Balance vor und die sehr wahrscheinlich unabsichtliche Störung der Balance durch den unvollendeten 11. gewellten Sonnenstrahl zeigt uns, dass diese Balance tatsächlich sehr leicht verletzbar ist. Nicht nur für das Kind, das ohne Sattel auf dem Pferd balancieren muss, sondern wohl auch für Pamela Colman Smith, die ihre Sonnenstrahlen ausbalancieren wollte.

Die handwerkliche Schöpfung der Karte spiegelt sozusagen ihre inhaltliche Ebene.

Einzug nach Jerusalem.

Für die Katholiken Waite und Smith war die Symbolik des Palmsonntags – des Einzugs von Jesus nach Jerusalem auf dem Rücken eines Esels sicher ein vertrautes Bild. Mit dem Palmsonntag beginnt die Passionsgeschichte, die eine Woche später zur Kreuzigung auf Golgatha führen wird. In der katholischen Kirche ist rot die liturgische Farbe des Palmsonntags – als Farbe des Blutes, des Feuers und des heiligen Geistes. Auch der traditionelle Hymnus zum Palmsonntag wirft ein höchst treffendes Licht auf das Bild:

„Des Königs Fahne schwebt empor,
Es glänzt des Kreuzes Bild hervor,
An dem den Tod das Leben starb,
Und Leben durch den Tod erwarb.“
(Hymnus Vexilla Regis)

Nicht nur die rätselhafte Verwendung einer (roten!) Fahne in der Hand des Kindes findet hier eine Erklärung, auch die ausgebreiteten Arme des Kindes auf dem Pferd erhalten damit eine weitere Bedeutungsebene: Neben der entwaffnenden Offenheit der Geste auf rein körpersprachlicher Ebene erahnen wir aus dem Zusammenhang der Gesamtsymbolik bereits einen Vorboten der Kreuzigung aus der christlichen Passionsgeschichte. Und der Blumenkranz auf dem Kopf ergibt bei näherer Betrachtung einen recht passablen Heiligenschein.  Lediglich die Jünger, die den Weg nach Jerusalem gesäumt hatten, sind hier durch bescheidene Sonnenblumen ersetzt. Dafür weisen ihre Blüten nicht wie üblich zur Sonne am Himmel (die sich ja hinter ihnen befindet), sondern sind dem Kind auf dem Pferd zugewandt, das somit – ganz im Sinne des Kind-Archetypus – die Position der Sonne selbst übernommen hat.

Den Archetypus des die Welt erlösenden Kindes finden wir im Christentum ebenso wie in anderen Weltreligionen, wenn auch in der Karte „Die Sonne“ die katholische Symbolik sehr weit transformiert wurde.

Das im Hymnus genannte Motiv der Auferstehung vom Tod finden wir folgerichtig bereits in der nächsten Karte „Gericht“ ganz explizit ausgestaltet.

Noch einmal der Kind-Archetypus: Kleiner als klein, größer als groß.

Ein Kind ist zunächst einmal klein und schwach, in archetypischer Form sogar noch viel weniger als das: Unter wundersamen Umständen  auf die Welt gekommen ist es hilflos ausgesetzt in eine es gefährdende Welt (man denke dabei im Christentum z.B. an Herodes).

In fast allen Mythen, die den Kindarchetypus als Ursprung haben, finden wir die wundersame Geburt, oft auch in Form einer jungfräulichen Geburt. Warum? Es geht ja gar nicht um irgend ein reales biologisches Kind, sondern um eine „psychische“ Geburt: Das Selbst entsteht, und eines seiner auffälligsten Merkmale ist die schmerzhaften Trennung von der Welt. Jetzt ergibt auch die Mauer endlich Sinn: Die Mauer trennt das Selbst vom Universum und ist somit der entscheidende Faktor für die weitere Entwicklung. Wären wir eins mit dem Universum (was wir auf einer metaphysischen Ebene definitiv sind, aber eben nicht auf der psychologischen!), dann würden wir uns kaum zu weiterem Bewusstsein entwickeln.

Die spätere Entwicklung des Kindes zum Helden oder Erlöser ist ebenfalls ein psychischer Vorgang, nämlich die Geschichte dessen, was C. G. Jung Individuation genannt hat, unsere Entwicklung zu dem, was tatsächlich (und noch unbewusst) in uns ist und was uns nicht von außen „nahe gelegt“ wird. Ein Prozess zunehmender Bewusstwerdung.

So ist auch das Licht der Sonne ein Symbol für das Bewusstsein (und die Dunkelheit immer eines für das Unbewusste), die Heldentat des Kindes wird nun darin bestehen, Licht zu bringen und zuvor unbewusste Inhalte in unsere Psyche zu integrieren. Die Kreis-Scheibe der Sonne repräsentiert dabei die Ganzheit, die im Zuge der Individuation angestrebt wird.

Das Pferd, auf dessen Rücken das Kind reitet ist als Tier traditionell ein Symbol des Unbewussten. Unser Kind bekämpft nicht das Unbewusste, sondern hat es sich zum Verbündeten gemacht und wird von ihm unterstützt. Es muss allerdings die Balance halten, einen festen Sattel gibt es nicht. Es wird entsprechend behutsam handeln müssen, um das Pferd nicht zu überfordern. Oder weniger sinnbildlich: Unbewusste Inhalte werden nicht ohne Widerstände (uns auch nicht ohne Gefahren für uns) bewusst werden, wir müssen dabei sehr achtsam vorgehen, um nicht die Balance zu verlieren.

Nebenbemerkung: Freilich wissen wir heute, dass das Bewusstsein von höheren Tieren (wie eben vom Pferd, aber auch von Hunden, Delphinen, Walen usw.) unserem eigenen menschlichen Bewusstsein sehr viel ähnlicher ist, als unser traditionelles Unwissen über unsere Mitgeschöpfe das jemals einräumen wollte. Unterschiede im Bewusstsein von Mensch und Tieren bestehen zweifellos, sie sind aber eher gradueller Natur, die Grenzen sind durchaus unscharf. Das sind aber Erkenntnisse, die Waite und Smith so nicht zur Verfügung standen und so repräsentiert das Tier eben unser Unbewusstes.

Jung spricht beim Kindarchetypus auch von einer „werdenden Ganzheit„, gespeist aus dem Bewusstsein einerseits und dem Unbewussten andererseits. Das ist etwas, das sowohl dem Bewusstsein als auch dem Unbewussten Probleme bereiten wird, denn das Bewusstsein kann sich so eine Vereinigung nicht recht vorstellen und das Unbewusste will es gar nicht (es möchte lieber unbewusst bleiben). Damit dieser Wachstumsprozess gelingen kann, braucht das Kind – mit dem letztlich unsere Selbstverwirklichung gemeint ist – quasi übernatürliche Kräfte: Es kann Wunder vollbringen, es ist unverletzlich bei aller Bedrohtheit, die sich ihm entgegenstellt. Es ist damit zugleich kleiner als klein und größer als groß. [vgl. auch C. G. Jung: Zur Psychologie des Kindarchetypus, 1940 in Edition C. G. Jung Bd. 9/I]

Sonnenkult

In vielen Tarotbüchern findet man Hinweise auf die Bedeutung der Sonne in den antiken Religionen der alten Ägypter, der Sumerer, der Babylonier und der alten Griechen oder im altisländischen Pantheon (bei dem schließlich die Sonne während des Weltuntergangs „Ragnarök“ durch den Wolf Skalli verschlungen wird).

Für die ersten mit Ackerbau beschäftigten Hochkulturen gab es kaum etwas Bedeutenderes als die Sonne, an deren Tages- und Jahreslauf die Tages- und die Jahreszeit abgelesen werden konnte, nein, diese Zeiten wurden durch die Bewegungen der Sonne am Himmel überhaupt erst geschaffen. Keine Ernte ohne Sonne. Keine Zeiten des Hochwassers am Nil ohne Sonne. Kein neuer Tag, wenn die Sonne nicht frühmorgens beschloss, eine weitere Runde am Firmament zu ziehen. Die Sonne war nicht nur irgend ein abstraktes Sinnbild für das Leben, sondern in den alten Regionen ein mächtigster Gott, der nichts weniger als das Leben der Menschen vollständig in der Hand hatte.

Entsprechend hoch dürfen wir auch heute noch die Bedeutung dieser Karte einschätzen. Die Kräfte, die hier in Erscheinung treten, gehören zu den mächtigsten in unserem bekannten Universum. Und damit auch im gar nicht so kleinen Universum unserer Psyche.

Parallelwelten.

Nach all der mystischen und metaphysischen Symbolik möchte ich zum Abschluss noch einen ganz konkreten Blick auf ein Bilddetail werfen.

Anhand der Feder haben wir ja bereits eine Handvoll Karten mit einer gewissen Verwandtschaftsbeziehung kennen gelernt. Neben der roten Feder fällt die markante Geste der weit ausgebreiteten Arme (mit ihrer verborgenen Kreuzsymbolik) ins Auge. Bei der Sonne, beim Narren und bei den Liebenden.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Wirklich ausgebreitete Arme finden wir nur in diesen 3 Bildern. Keine einzige der anderen großen und kleinen Arkanen oder Hofkarten zeigt eine Person mit ausgebreiteten Armen. Und tatsächlich offenbaren die 3 Karten auch die Quintessenz dieser Geste. Blättern Sie ruhig mal durch Ihre Tarot-Karten: Die drei hier gezeigten Karten sind zudem auch noch die einzigen im ganzen Tarot, auf denen eine Sonne gezeigt wird. (Der Mond und die 8 der Kelche zeigen eher eine Sonnenfinsternis als die strahlende Sonne.)

Die Weltoffenheit und Unbekümmertheit des Narren finden wir ebenso bei unserem Kind der Sonnenkarte. Die feurige Feder auf dem Kopf haben wir bereits betrachtet, ebenso das hilfreiche Tier, aber auch die symbolischen Stäbe sollten wir in unsere Betrachtung einbeziehen: Bei der Sonne ist der Stab als Stange des roten Banners versteckt, beim Narren als Wanderstab, an dessen Ende ein Beutel geschnürt ist. Neben den roten „flammenden“ Federn erneut das Element Feuer also, diesmal dezent verborgen.

Eine der psychischen Eigenschaften, die dem Feuer zugeschrieben wird, ist die der Intuition. Für die Aufgaben, die mit der Sonne verbunden sid, bestimmt keine schlechte Idee.

Gleichzeitig ist es eine segnende, eine umarmende Haltung, die wir auch beim Engel der Karte „Die Liebenden“ wiederfinden. Ist es nicht auch eine Geste der Vergebung, gerade beim Sündenfall im Paradies, der so zentral für die Liebenden ist? Und zusammen mit der oben besprochenen Palmsonntags-Symbolik scheint es wie eine Erneuerung des Versprechens zu sein: Euch wird vergeben werden. Die urchristliche Botschaft der Nächstenliebe schimmert hier durch. Und tatsächlich wollen manche (auch z.B. Katz & Goodwin [Secrets of the Waite-Smith Tarot“, Llewellyn, 2015]) auf eben dieser Karte ein klitzekleines „Love“ unter der Signatur von Pamela Colman-Smith erkennen:

Die Sonne: „Love“. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

And now for something completely different: Haben Sie die zu Beginn erwähnte Schnecke schon gefunden? Sie befindet sich auf der 9 der Pentakel…

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Karte im Detail: Der Teufel

Der Teufel. Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Der Teufel ist – neben den 8 Schwertern, dem Gehängten und ein paar weiteren Karten – ein Paradebeispiel einer missverstandene Karte.

In einer der grundlegenden Betrachtungen – Umgang mit multiplen Persönlichkeiten – haben wir uns den Teufel bereits etwas näher angesehen. Ich kenne übrigens kaum ein Tarot-Buch, das die Karte „Der Teufel“ wirklich positiv würdigt.

Wir werden in künftigen Beiträgen dieses kleinen Blogs noch sehen, dass auch keine einzige der anderen klassischen „negativen Karten“ tatsächlich eine negative Bedeutung hat: der Gehängte, der Tod, der Teufel, der Turm, 5 der Münzen, die meisten Schwerter-Karten, 5 der Kelche, 7 der Kelche, 7 der Stäbe, 9 der Stäbe, 10 der Stäbe usw. Das alles allerdings vor dem Hintergrund der von mir vorgeschlagenen psychologischen Perspektive auf die Karten. Andere Sichtweisen mögen durchaus auch zu anderen Schlüsse kommen.

Woher stammt der Teufel?

Wenn wir in die vorchristlichen Wurzeln der Idee vom Teufel zurückblicken, dann stoßen wir im Alten Testament (bzw. im Tanach) auf einen ganz anderen Teufel: Als „Satan“ wird da die Rolle eines Anklägers am göttlichen Gerichtshof bezeichnet, einzunehmen jeweils von einem ganz „normalen“ Engel. In der bekannten Geschichte um Hiob wirft ein solcher Satan Gott vor, dieser Hiob sei doch nur deshalb so fromm und Gott ergeben, weil es ihm – dank der Gunst Gottes – so gut gehe. In Folge beauftragt der solchermaßen herausgeforderte Gott seinen Satan also, den armen Hiob schwer zu plagen: Hiob verliert seinen gesamten Besitz, dann seine Familie und schließlich seine Gesundheit. Am Ende, nach einigen Irrungen und Wirrungen ist bewiesen, dass Hiob auch in dieser misslichen Situation Gott noch immer ergeben bleibt. Interessant dabei ist die Rolle des Satans: Er bekommt von Gott ganz genaue Anweisungen, was er zu tun und zu lassen hat und er befolgt sie auch!

Auch der Gott dieser alttestamentarischen Geschichten ist für uns heute ungewohnt: er ist sehr archaisch, eifersüchtig, oft sogar rachsüchtig und ziemlich brutal, denken Sie nur an die Geschichte mit der Sintflut. Ein „lieber“ Gott war das eher nicht. Eine Abspaltung der zerstörerischen Kräfte fand erst viel später statt – das war dann die „Geburtsstunde“ der Vorstellung vom Teufel.

Blick über den Tellerrand: In einer speziellen Form des Buddhismus, dem Vajrayana, geht die Integration des Schattens in das Göttliche noch sehr viel weiter als bei Hiob: Bei einigen sehr fortgeschrittenen Meditationstechniken werden die drei Geistesgifte Zorn, Begierde und Unwissenheit sogar zur Erlangung der Erleuchtung eingesetzt.

Der Satan scheint ansonsten ursprünglich gar nicht das abgrundtief Böse gewesen zu sein, sondern hatte eine sozusagen dialektische Funktion inne, die man heute noch im „Advocatus Diaboli“ findet, also jemandem, der die bestehenden Grundsätze hinterfragt und als Diabolos (griechisch: „Durcheinanderwerfer“) frech die Dinge in Frage und auf den Kopf stellen darf.

C. G. Jung hat darauf hingewiesen, dass wir einen Nachklang dieser alttestamentarischen Ambivalenz noch im Vaterunser finden: „Und führe uns nicht in Versuchung“ passt wohl eher zum großen Versucher, dem Teufel [vgl. Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen, Edition C. G. Jung, Patmos, Bd. 9/I].

Manche der moderneren Aspekte des Teufels entstammen auch aus „Marketing-Maßnahmen“ der frühen alttestamentarischen Religion gegen konkurrierende lokale Gottheiten – wo z.B. ein an sich harmloser Wetter- und Fruchtbarkeitsgott Baal zu Beelzebub, dem Herrn der Fliegen umgedeutet wurde.

Tugenden und Sünden im Tarot (und warum der Teufel auch da nicht für „das Böse“ steht)

Wir haben bereits in den Grundlagen-Kapiteln gesehen, dass es eigene Karten für die vier Kardinalstugenden gibt (Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit / Kraft und Weisheit / Eremit) . Wenn nun der Teufel im Tarot eine Darstellung „des Bösen“ ist, müssten dann nicht zumindest irgendwo Abbildungen für die sieben Todsünden (oder Haupt-Laster) zu erwarten sein? Wer es nicht mehr weiß: Wir sprechen dabei von Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Von der reinen Bildsprache ist es schwer, auch nur eine einzige der Todsünden in der Karte „der Teufel“ (oder in einer der anderen großen Arkanen) auszumachen. Der Tarot scheint sich irgendwie mehr um die Tugenden zu kümmern…

Der Tarot stellt damit weniger die Gesamtheit alles möglichen Lebens und Erlebens dar, als vielmehr einen spezifischen Pfad des inneren Wachstums, des Reifens und – so hätte C. G. Jung es genannt – der Individuation. Das erschwert freilich das „Wahrsagen“ mit den Karten, weil es aus dieser Sicht heraus nicht wirklich Material für die Darstellung der mannigfaltigen Gefahren und Misslichkeiten des Lebens gibt, aber es fördert dafür einen Zugang zu den Karten der da lautet: „Hey, schau Dir mal meinen Rat näher an, vielleicht ist das ja genau der passende nächste Entwicklungsschritt für Dich?“

Der Teufel als Schatten

In der Analytischen Psychologie C. G. Jungs ist der Schatten ein Teil unserer Psyche, der neben unserer aufpolierten, sozial angepassten und manchmal auch inszenierten „Persona“ diejenigen psychischen Inhalte von uns enthält, die wir ablehnen, die wir an uns selbst peinlich finden und die wie vielleicht sogar fürchten.

Darunter fallen auch verdrängte Wünsche und gescheiterte (Lebens-)Träume. Passt da nicht gut, dass der Teufel seine Fackel nach unten hält, hin zur „Unterwelt“, wo es noch dunkler ist? Der gruseligste Moment in der Geisterbahn ist der, wenn ein Licht auf eines der Monster fällt. Und hier stehen unsere eigenen beiden Monster, die vielleicht schon Jahrzehnte im Dunkel der Verdrängung angekettet sind. Das müssen gar nicht „böse“ oder „sündige“ Schattenseiten sein. Im Gegenteil, oft sind das ganz harmlose Dinge. Ein verdrängter Wunsch nach Emotionalität vielleicht bei einem mit sich und seinen Mitarbeitern allzu harten Manager, die Mutter von 4 Kindern, die sich nie ihren Wunsch nach etwas Ruhe und Zeit für sich selbst eingestehen konnte, der unerfüllte Traum, ein bestimmtes Studium zu ergreifen und vieles mehr.

Und freilich gibt es auch Schatten-Inhalte, bei denen wir gut daran tun, sie abzulehnen.

Es wird also nicht darum gehen, einfach sämtliche Schatten-Inhalte in uns irgendwie auszuleben, nach dem Motto: „lass doch mal die Sau raus“. Aber anschauen sollten wir sie uns durchaus (soweit sie uns eben bewusst zugänglich sind) und dabei müssen wir oft akzeptieren, dass wir leider gar nicht so perfekt sind, wie wir uns das vielleicht wünschen würden.

Mit der Frage der bewussten Zugänglichkeit berühren wir die nächste Eigenschaft des Schattens: größere Teile von ihm sind uns nicht bewusst. Wir können Hinweise auf sie zum Beispiel dadurch gewinnen, wenn wir bestimmte Menschen und deren Eigenschaften ganz spontan und ohne offensichtlichen persönlichen Bezug ablehnen, verabscheuen oder gar hassen. Wenn ich stets friedfertig auftrete (und mich selbst dabei auch als unbedingt friedfertigen Menschen wahrnehme!), aber sehr heftig auf etwas weniger friedfertige Zeitgenossen reagiere, dann sollte ich näher hinsehen, denn mein Schatten könnte in einer verdrängten Aggressivität bestehen. Das gilt ganz besonders dann, wenn mir diese Zeitgenossen persönlich rein gar nichts getan haben.

Je mehr man nun den eigenen Schatten verdrängt und abspaltet, desto wahrscheinlicher wird er sich irgendwo bemerkbar machen. Sehr häufig fangen wir dann an, den Schatten auf andere zu projizieren. Wenn wir uns dabei in der Politik umsehen, dann kommt es manchmal zu Gruppierungen und Parteien, die ganz massiv Feindbilder aufbauen, denen dann alle möglichen Schatten-Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Feindbilder betreffen freilich nicht mehr einzelne verhasste Personen wie beim individuellen Schatten, sondern ganze Bevölkerungsgruppen.

Nehmen wir nur Hitlers Verbrechensregime, das die halbe Welt in gezieltem Machtkalkül mit millionenfachem Mord, Krieg und Elend überzogen hat, das aber den Juden nichts weniger als eine Weltverschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft angedichtet hatte. Was für eine monströse Schattenprojektion!

Im politischen Raum betreten wir übrigens die Ebene von kollektiven Schatten, die eine größere Gruppe von Menschen vereint und die somit die Projektionen umso gefährlicher macht, weil sie dann mit einem „wir“ verbunden sind, das im Rausch eines Gemeinschaftserlebens individuelle Skrupel sehr leicht einmal beiseite schiebt.

Wenn Sie heute irgendwo (gerne in sozialen Medien) Hassparolen lesen, dann beruhen die meisten davon auf Projektionen des eigenen (oder eines kollektiven) Schattens auf andere.

Zurück zur Karte: Das Bühnenbild

Wir erkennen zunächst einen schwarzen Hintergrund. Es ist tiefste Nacht oder wir befinden uns in einem fensterlosen Raum. Die „Bühne“ ist ansonsten ziemlich übersichtlich. Auf einem mit nur wenigen Strichen skizzierten Boden steht ein schwarzer Quader, an dem zwei Ketten befestigt sind. Abgesehen von den Figuren selbst war’s das, dominant ist die Farbe Schwarz, gefolgt von Schattierungen der Hautfarbe sowie grau.

Drei Figuren sind aufgestellt: Zwei davon sind an den Quader gekettet, ansonsten sieht man noch den Teufel selbst, der auf dem Quader hockt und mit den Händen eine Geste „wie oben so unten“ macht, die an den Magier, aber auch (deutlich weniger ausgeprägt) an die Gerechtigkeit erinnert. Noch ein interessantes Detail: Der Teufel hält seine Fackel nach unten, der Magier seinen Stab nach oben, ganz ähnlich wie viele Darstellungen von Cautopates und Cautes aus dem altpersischen Kult um den Sonnengott Mithras, die für den Herbstpunkt und den Frühlingspunkt im Jahreslauf stehen.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Damit werden wir uns noch beschäftigen müssen. Eine weitere „klassische“ Parallele ist freilich die Karte „Die Liebenden“, die schon aufgrund der numerologischen Verwandtschaft der 15 des Teufels mit der 6 der Liebenden nahe liegt (die Quersumme von 15 ist die 6). Hier ist zwar die Handgeste eine andere, aber wir finden dafür eine sehr ähnliche Aufteilung des „Personals“ in eine große, dominante und beflügelte Figur (Teufel, bzw. Erzengel Raphael) und davor zwei kleinere (das angekettete Paar, bzw. Adam und Eva).

Aber auch der Hierophant hat die gleiche Bildstruktur: der prominente Priester (mit Segnungsgeste der einen Hand und liturgischem „Instrument“ in der anderen) und seine beiden etwas verkleinerten Adepten im Vordergrund. An der Stelle der Flügel sehen wir zwei massive graue Säulen.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Bereits im Grundlagenkapitel zum „Umgang mit multiplen Persönlichkeiten“ hatten wir gesehen, dass es sich lohnt, verschiedene Perspektiven bei Karten einzunehmen, auf denen mehrere Figuren dargestellt werden. Letztlich können wir alles – bis hin zum schwarzen Steinblock, an den die kleinen Unterteufelchen gekettet sind – als symbolische Darstellung unseres psychischen Geschehens werten.

Körpersprache im Detail

Werfen wir doch einen Blick auf die Körpersprache unserer Akteure: Neben der plakativen Geste des Teufels gibt es wie ich finde noch eine weitere interessante Geste: Das männliche Unterteufelchen stemmt eine Hand in die Hüfte und streckt die andere Hand mit offener Handfläche in Richtung der linken Bildhälfte, also hin zum weiblichen Unterteufelchen. Der Kopf ist dabei leicht geneigt und zur weiblichen Figur hin gedreht.

Der Teufel – Detail Blick und Geste der kleinen Figuren. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

In einem ganz anderen Kontext würde man sagen: „ah, da fordert jemand seine Dame zum Tanz auf.“ Die nach oben offene Hand ist eine Bitte, die andere Person möge doch ihre Hand in die Seine legen und der in der Hüfte gestützte Arm soll das unterstreichen (und das vielleicht fehlende Selbstbewusstsein des Bittenden etwas aufpeppen). Auch der Blick passt dazu: Man(n) will nicht aufdringlich sein und senkt den Kopf und die Augen, so wie wir alle das regelmäßig im Fahrstuhl tun, um nur ja nicht aggressiv auf die anderen zu wirken.

Die Lady indes scheint noch zu zögern, ihre Haltung zeigt abgesehen vom Blickkontakt noch keine klare Zuwendung zu ihrem männlichen Gegenüber. Währenddessen brennt ihm schon die Rute, entfacht durch die Fackel des Teufels hat er offensichtlich bereits „Feuer untern Hintern“.

Nachtkarten im Tarot

Lassen wir die handelnden Personen einen Moment stehen und wenden wir uns nochmal dem Hintergrund der „Bühne“ auf dieser Karte zu. Außer dem Quader erkennen wir gar nichts, es ist tiefdunkel. Selbst wenn außerhalb unserer sichtbaren Kartenwelt die Sonne scheinen würde: hier ist es finsterste Nacht. Es gibt gar nicht so viele dieser Nachtkarten im Tarot von Smith und Waite: Bei den großen Arkanen ist es nur noch der Turm. Selbst der Tod und der Eremit (der immerhin einen Stern in seiner Lampe trägt) wandeln eher im Zwielicht und auch der Mond hat einen erstaunlich hellen Himmel hinter sich.

Keine einzige Hofkarte hat eine nächtliche Szenerie und auch bei den kleinen Arkanen sind es lediglich die 9 und 10 der Schwerter (letztere zeigt an Stelle eines echten Nachthimmels einen pechschwarzen Wolkenhimmel, der aber denselben Zweck erfüllt) sowie die 5 der Münzen. Aus psychologischer Sicht gehört auch noch die 3 der Münzen in diese Reihe: Die Szene spielt zwar vordergründig am Tage, hinter dem Torbogen befindet sich jedoch ein Gewölbe, voll mit schwarzer Nacht.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Das sind nun alle unsere „Kinder der Nacht“. 5 davon gehören zu den gefürchtetsten Karten bei so manchem „Wahrsage-Kartenleger“ (gerne auch online oder per Telefon). Aus psychologischer Sicht versuchen alle diese Karten, einen Blick auf das Unbewusste zu ermöglichen. Da das Unbewusste aber prinzipiell nicht für uns direkt erfahrbar ist, bleibt es finster und alles was wir erkennen sind die indirekten Spuren und Wirkungen des Unbewussten.

Das Unbewusste wird übrigens nicht nur durch die Schwärze der Nacht symbolisiert, sondern wir sollten auch auf alle Karten achten, die größere Gewässer zeigen: Die Hohepriesterin, deren Gewand sogar selbst zum Gewässer wird, die Herrscherin, bei der ein Gewässer direkt aus dem Wald (einem weiteren Symbol des Unbewussten!) fließt, der Wagen, hinter dem ein Fluss fließt, der Tod – ebenfalls mit einem Fluss hinter sich, die Mäßigkeit, die ihren Fuß ins Wasser steckt, der Stern, der Wasser vergießt, aber ansonsten sogar auf ihm stehen kann, der Mond, bei dem ein Krebs aus dem Wasser steigt und sich zu Hund und Wolf gesellt, und schließlich das Gericht, bei dem die ganze Welt im Wasser versunken zu sein scheint, auf dessen Oberfläche die offenen Särge der Auferstandenen schwimmen.

Und das sind nur die großen Arkanen. Die kleinen dürfen Sie jetzt gerne selbst nach Wasserstellen absuchen.

Symbolik

Der Teufel ist von Pamela Colman Smith mit einer Reihe von interessanten Symbolen ausgestattet worden. Die Fledermausflügel unterscheiden ihn deutlich von den anderen drei Engeln im Tarot (Die Liebenden, Mäßigkeit und Gericht). Interessanterweise sind Fledermäuse Tiere, die in Höhlen leben, deren Finsternis wie wir gesehen haben ein altes Symbol für das Unbewusste ist.

Tod – Umgekehrtes Pentagramm im Banner. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Das umgekehrte Pentagramm ⛧ kennt jeder als Symbol der schwarzen Magie und Teufelsanbetung. Die 5 Ecken stehen für Hörner, Ohren und Ziegenbart des Teufels. Über die Symbolik des Pentagramms ließe sich alleine schon ein eigener Blog füllen. Mit einer Spitze nach oben ist es ein magisches Symbol, das – umschlossen von einem Kreis – die Pentakel im Tarot von Smith und Waite ziert. Die einzige Karte der großen Arkanen mit einem Pentakel ist der Magier, was zu seiner Funktion als Gegenpol des Teufels passt. Ein umgekehrtes Pentagramm findet man allerdings nur beim Teufel. Doch halt: Wenn wir die schwarze Flagge der Karte „Tod“ untersuchen, dann steckt darin ebenfalls ein umgekehrtes Pentagramm. „Tod und Teufel“ sind schon immer nahe beisammen gewesen. Während das Hauptthema der Karte „Tod“ das Loslassen ist, so scheint es beim „Teufel“ das Zulassen (von unerwünschten Anteilen unserer Psyche) zu sein.

Die Hörner und der Ziegenbart des Teufels sind übrigens die Hörner und der Bart des Hirtengottes Pan – neben Baal einer weiteren (ebenfalls ganz harmlosen) Gottheit, die vom Christentum zum Teufel umgedeutet wurde. Nach einer Darstellung ist Pan der Sohn von Hermes, dem Götterboten, Seelenführer und Gott der Magier.

Ok, wagen wir eine (wie immer vorläufige) Interpretation?

Das war zugegebenermaßen ein recht wilder Ritt durch Psychologie und Weltgeschichte. Vom Mithraskult zu alten und neuen Nazis und anderen Hatern. Von Baal zum kollektiven Unbewußten C. G. Jungs mit Aufforderung zum Tanz durch finsterste Nacht. Assoziationen „auf Teufel komm raus“, sozusagen.

Eine wichtige Botschaft der Karte scheint mir zu sein: Wir werden unseren Schatten nicht los. Er ist da, ziemlich mächtig ist er sogar, er dominiert alleine schon aufgrund seiner physischen Größe die beiden menschlicheren Figuren im Vordergrund. Und wir sind an ihn angekettet. Oder: Perspektivwechsel – nehmen wir die Position der großen Figur auf der Karte ein. Wenn wir uns besonders stark machen und ganz grimmig versuchen, unsere inneren Schatten im Zaum zu halten: die sind immer noch da, weil sie an uns angekettet sind. Egal wie wir es betrachten: Wir sollten uns damit abfinden, dass unser Schatten existiert. Und es wäre auch gar nicht gesund, wenn wir den Schatten allzu weit von uns wegschieben würden. Als Projektion auf andere, „fremde“ etwa.

Die Fackel des großen Teufels könnte übrigens etwas Licht in die Sammlung unserer Peinlichkeiten (=Schatten) bringen. Und gezielt zum Einsatz gebracht, kann unser Schatten uns „Feuer unterm Hintern“ machen, so wie der kleinen Figur rechts auf der Karte.

Wie bei der Geschichte um Hiob ist der Teufel derjenige in uns, der uns die wirklich unangenehmen Fragen im Leben stellt. Nämlich die, die wir ganz bestimmt nicht hören wollen. Er hinterfragt, ob so manches „Arrangement“ unserer Bequemlichkeit uns nicht in Wirklichkeit an einen starren Stein angekettet hat. Beruflich? Beziehung? Die Stagnation der persönlichen Entwicklung? Schon alles erreicht? War das alles im Leben?

Das Paar der kleinen „Unterteufel“ stellt zweifellos eine Dualität (männlich – weiblich) dar. Ein großer Teil des Tarots (und aller mir bekannten spirituellen Traditionen) beschäftigt sich mit der Überwindung der Dualität AN SICH. Der Schatten und die nach außen dargestellte Persona sind eine solche Dualität (ebenso wie „ich“ gegen „der Rest des unendlichen Universums“, usw.) Ist es da nicht bemerkenswert, dass ein Teil dieser Dualität dem anderen die Hand reicht? „Lass uns zusammen kommen.“ (Willst Du mit mir gehen? Ja / Nein / Vielleicht?)

Der Schatten gehört zu uns (und nicht zu irgend jemandem da draußen). Und die Parallelität zum Magier zeigt, dass wir es hier mit einer der ganz großen Kräfte zu tun haben. Wenn dem Magier sämtliche vier Elemente zu Diensten sind, dann gilt das für den Schatten mindestens ebenso. „Wie unten, so oben“: Das, was wir verdrängen und nicht als zu uns zugehörig akzeptieren (=“unten“) determiniert zu einem guten Teil unsere nach außen getragene „Persona“ (unsere gesellschaftliche Maske =“oben“). Nicht zuletzt heißt der Magier in früheren Tarots auch „Le Bateleur“, der Gaukler (oder gar Schmierenkomödiant), der nach außen eine Show abzieht, so wie wir unsere Persona nach außen darstellen. Im Gegensatz zum Magier hält der Teufel sein „Werkzeug“ – die Fackel – mit der linken Hand, die eher mit der emotionalen rechten Gehirnhälfte verbunden ist als die rechte, „rationale“ Hand des Magiers.

Bei der Betrachtung des Magiers sollten wir übrigens unbedingt den Teufel als Schatten des Magiers in Betracht ziehen.

Wie bei der Karte „Gerechtigkeit“ geht es auch beim Teufel um eine Balance. Die zu balancierenden Figuren sehen wir im Vordergrund: Ein Paar, das die Dualität „per se“ darstellt und dessen Gestik zeigt, dass es dennoch zur Vereinigung strebt und dabei sogar über den zentralen Quader aneinander gekettet ist.

Die klassische Parallele zur Karte „Die Liebenden“ ist schon oft diskutiert worden. Meist leider im Sinne von Gegensätzen der beiden Karten – wir neigen halt doch zum dualistischen Denken, wo immer uns das möglich ist. Was bedeutet nun diese ganz offensichtlich bewusst dargestellte Parallele? Die Karte „Die Liebenden“ handelt zu einem großen Teil vom freien Willen, auch von Herzensentscheidungen, bei älteren Tarots hat der Jüngling noch die Wahl zwischen zwei attraktiven Damen. Das ist bei Smith und Waite sehr clever durch die paradiesische Szene des Verzehrs einer Frucht des Baums der Erkenntnis ersetzt worden, Schlange inklusive. Eigentlich ist das sogar ein noch stärkeres Bild einer freien Willensentscheidung als die Wahl zwischen zwei Ladies, mit einem höchst interessanten zusätzlichen Aspekt:

Die Liebenden: Baum der Erkenntnis und Baum des Lebens. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Die Frucht, die gepflückt wurde, war die Erkenntnis von Gut und Böse. Der Preis dafür war bekanntlich enorm: Wir konnten nicht mehr vom „Baum des Lebens“ kosten, der uns ein ewiges Leben verschafft hätte. So jedenfalls die Geschichte vom Sündenfall, der bekanntlich zur Vertreibung aus dem Paradies führte.

Das führt uns unmittelbar zur Frage: Warum zum Teufel sollte jemand so bescheuert sein, das Paradies und das ewige Leben zu verspielen?

Der Grund liegt darin, dass es erst die Erkenntnis von Gut und Böse ist, die uns einen sinnvollen Umgang mit dem Schatten ermöglicht! Ohne einen soliden moralischen Kompass können wir nie sicher sein, ob es sich um die anfangs skizzierten harmlosen Dinge handelt oder ob wir mit dem Ausleben unserer Schattenanteile nicht großen Schaden anrichten. Für uns übrigens nicht weniger als für andere, denn jedes von uns erzeugte Leid wird sich (karmisch und direkt) auch auf uns selbst auswirken.

Vor der Nutzung dieser Kräfte steht noch die erhebliche Hürde, dass uns alles in unserem Schatten unangenehm und peinlich ist. Aber es steckt dafür auch eine enorme Menge an Energie und Lebenskraft in diesen Inhalten unserer Psyche. Wenn es uns nun gelingt, diejenigen Schattenanteile zu leben, die tatsächlich unseren „moralischen TÜV“ geschafft haben, dann können wir aufgrund der darin liegenden Lebensenergie sehr viel gewinnen. Die anderen (ohne TÜV) sollten wir kennen und als Teil von uns selbst akzeptieren. Wir sind nicht perfekt.

Das klingt viel trivialer, als es in Wirklichkeit ist. Die Schatten sind definitiv nicht immer klar erkennbar und unser moralischer Kompass ist ganz bestimmt nicht davor gefeit, gelegentlich wirr und ziellos zu rotieren. (Vom kollektiven moralischen Kompass mal ganz zu schweigen.)

Letzte Parallele: der Hierophant.

Interessanterweise begegnen nicht wenige Tarot-Leger dem Hierophanten mit einer ordentlichen Portion Skepsis. Ist das nicht eine Karte die für das Establishment, für eine starre und verkrustete Kirche steht? Für Traditionalismus und in die Vergangenheit gerichteten Blick? Blinden Glauben? Gehorsam gegenüber der Institution?

Aber das ist eine arg triviale Sicht auf diese Karte. In älteren Tarots hieß sie „Der Papst“ (und die Hohepriesterin hieß dann „Die Päpstin“), auch noch beim bereits esoterischen Tarot von Oswald Wirth im Jahr 1889. Der Name der Karte wurde dann aber in „Der Hierophant“ geändert.

Einfach so, weil’s schicker klingt?

Der Name Hierophant stammt aus dem Demeter-Kult des antiken Griechenlands. Die Hierophanten waren die Eingeweihten in die damals streng geheimen Mysterien um die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, deren Tochter Persephone vom Unterweltgott Hades geraubt wurde, wieder zurück geholt wurde, aber fortan einen bestimmten Teil des Jahres immer wieder zu Hades zurück kehren muss: Dann vernachlässigt Demeter ihre Pflichten und es wird Winter. Kehrt Persephone zu Mutti zurück: Frühling!

Das ergänzt die Verbindung des Teufels zu einer anderen Karte: Mit dem Magier zusammen bildet er ein Echo auf Cautopates und Cautes aus dem altpersischen Kult um den Sonnengott Mithras, die für den Frühlings- und den Herbstpunkt im Jahreskreis stehen. Nicht umsonst ist der Magier mit Rosen und Lilien umkränzt (sie blühen etwa ab Mai) und nicht umsonst endet der Schweif des weiblichen Unterteufels in einer großen Weintraube (die im Herbst reif ist).

Haben Sie sich nie gefragt, warum dieser Schweif AUSGERECHNET in einer WEINTRAUBE endet?

Die Hierophanten dagegen waren Priester, die um die Mysterien hinter dem Jahreskreislauf und ihren Wendepunkten wussten und die alljährlich die Gläubigen in die Mysterien von Eleusis eingeweiht hatten. Das geschah übrigens über einen Zeitraum von fast zweitausend Jahren, bis der Kult schließlich vom (christlichen) römischen Kaiser Theodosius I. verboten wurde.

Der Teufel steht hier also auch für eine der Kräfte, die den Kreislauf des Werdens und Vergehens antreiben.

Das gilt selbstverständlich nicht nur auf der banalen Ebene der Jahreszeiten mit ihren äußerlichen Naturerscheinungen, auf der fast ebenso banalen Ebene der Übertragung dieses Jahreskreislaufs auf das Werden und Vergehen im menschlichen Leben, sondern auch und ganz besonders auf psychischer Ebene.

Ich möchte das gerne konkret beschreiben: In der Lebensmitte tauchen einige existenzielle Fragen auf, an denen wir resignieren und zerbrechen können, aber an denen wir auch wachsen und uns erfüllen können: Was steckt in uns, das noch werden möchte? Was kann dafür in den Hintergrund treten? Was sind vergeudete Chancen, denen wir noch immer nachtrauern, die wir aber loslassen sollten (übrigens ein Thema der Karte Der Tod, auf dessen Banner wir auch folgerichtig ein dem umgekehrten Pentagramm erstaunlich ähnliches Symbol erkennen).

Wir haben in dieser Lebensmitte bisher viel Disziplin aufgewendet, um unser Leben zu gestalten, eine Familie zu gründen, einen Beruf auszufüllen, unseren Platz in der Gesellschaft zu finden. Jede Disziplin erfordert Verzicht und Opfer, führt zu ungelebtem Leben, vieles davon landet in unserem Schatten. Und gerade zur Bewältigung der zweiten Lebenshälfte scheint mir eine nähere Betrachtung dieser Schatten eine wertvolle Hilfe zu sein. Die Erkundung dessen, was bislang noch zu wenig Platz hatte, kann ein Motor der Erfüllung und Reifung sein.

Zu guter Letzt noch eine Anekdote aus der unbestechlichen Wissenschaft der Mathematik.

Wir lächeln heutzutage müde über den Teufel und die Mythen rund um ihn. Die Zahl des Tieres „666“ hat wahrscheinlich jeder schon einmal auf einem Autokennzeichen gesehen. Banalisiert und säkularisiert, der Teufel als milde anzüglicher Scherz also? Und doch gibt es so etwas mysteriöses wie „Belphegors Primzahl“: Man nehme eine „666“, schreibe links und rechts je 13 (dreizehn!) Nullen und begrenze alles durch Einsen:

1000000000000066600000000000001

Das ist eine Primzahl. Und man kann sie rückwärts wie vorwärts lesen. Es gibt schon merkwürdige Erscheinungen in der Unendlichkeit der Zahlentheorie.

Die 666 erhält man auch, wenn man die ersten 7 (sieben!) Primzahlen jeweils mit sich selbst multipliziert und addiert:

2²+3²+5²+7²+11²+13²+17² = 4+9+25+49+121+169+289 = 666

Schon etwas … merkwürdig. 😉

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com