9. Die große Beliebigkeit.

Dem Tarot wird manchmal vorgeworfen, dass sich die verschiedenen Autoren und Schulen so weit und in vielfacher Weise widersprechen, dass im Endeffekt die Auslegung der Bedeutung der Karten vollkommen beliebig würde.

Da ist schon was dran.

Ein Beispiel für ganz konträre Auslegungen haben wir bereits bei unserer (vorläufigen) Betrachtung des Teufels kennen gelernt. Und natürlich bringen unterschiedliche Tarot-Decks auch ganz unterschiedliche Blickwinkel mit sich, sind in unterschiedliche Kontexte eingebettet, stammen von Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund usw.

Es gibt – glücklicherweise! – keine „Oberste Tarot-Behörde“, die erst einmal jedes Tarot-Deck, aber auch jede Literatur zum Tarot vorweg absegnen und freigeben müsste. Wenn vielleicht auch einzelne Tarot-Autoren und -Autorinnen ihre Sicht der Tarot-Welt etwas dogmatisch vertreten, so trifft das ganz bestimmt nicht für die Gesamtheit aller „Tarot-Verrückten“ zu: Jede/r kann letztlich mit dem Tarot machen, was ihr/ihm beliebt. Manches wird dann höchst originell sein und ganz neue Wege betreten, anderes eher gequält (um nicht „gequirlt“ zu sagen) wirken. Sei es drum!

Tendenziell sind hier übrigens derzeit die englischsprachigen Länder führend, die deutschsprachige Tarot-Szene ist leider seit einigen Jahren vergleichsweise wenig aktiv, auch was die Zahl und visionäre Qualität von Publikationen, Foren, sozialen Medien usw. betrifft. Die letzten für mich wirklich bemerkenswerten Veröffentlichungen waren der Sentenzia Tarot (Eva-Christiane Wetterer und Anja-Dorothee Schacht) sowie das Buch „Narrensprünge“ von Margarete Petersen zu ihrem Tarot – beides bereits aus dem Jahr 2010. Vielleicht auch nur ein Dornröschenschlaf…

Also doch alles ganz beliebig? Oder gibt es zumindest bei den verschiedenen Tarot-Decks so etwas wie einen „(kleinsten) gemeinsamen Nenner“, der alle (brauchbaren) Tarot-Decks und die gesamte „Tarot-Gemeinde“ mit ihren unzähligen Publikationen umspannt?

Auch hier möchte ich wieder einen eher psychologischen Ansatz verfolgen: Jedes Deck hat eine seine ganz eigene Entstehungsgeschichte, seinen ganz eigenen Künstler/Künstlerin mit seinem/ihrem spezifischen Blick auf die Welt. Das spiegelt sich unmittelbar darin, dass diese verschiedenen Decks auch unterschiedliche Inhalte in uns aktivieren, andere Assoziationen, Emotionen, Erinnerungen usw. evozieren. Für mich als Benutzer und „Befrager“ der Karten ist es ein ganz enormer Unterschied, ob der „Magier“ der Holzschnitt eines Jahrmarkt-Tricksters ist wie beim Tarot de Marseille oder ob ich Das Walt-Disney-Zitat „Wenn Du es träumen kannst, kannst Du es auch machen“ lese, wie beim Sentenzia-Tarot (bei dem zudem auch noch die Art des Textsatzes zur Bedeutung beiträgt).

Selbstverständlich kann man mit viel gutem Willen auch hier noch eine gemeinsame Basis ausmachen, aber die Unterschiede sind dann doch oft ganz erheblich. Es wäre ja auch schade, wenn sie es nicht wären – welchen Sinn würden ansonsten mehrere unterschiedliche Tarot-Decks machen? Und nein, das ist gar nicht trivial: Man kann die schlechten, die epigonenhaften, die „me-too“-Decks genau daran erkennen: Tragen sie tatsächlich etwas Neues bei? Überraschen sie mich noch? Gibt es komplett unerwartete Aspekte? Oder wird eine altbekannte Szenerie (meist aus dem Waite-Smith-Tarot) lediglich in neuer „Kostümierung“ dargebracht?

Letztlich bedeutet das aber: Jedes Tarot-Deck (wenn es etwas taugt) muss komplett neu „erobert“ werden. Ich muss tatsächlich wieder bei NULL neu anfangen! Ein  gutes Beispiel ist der Tarot von Margarete Petersen: Was für eine mächtige Bildsprache! Aber so weit entfernt von allem bislang Bekanntem, wie man es sich nur vorstellen kann.

Dennoch sind auch diese sehr weit voneinander entfernten Decks nicht vollständig „beziehungslos“ gegenüber bestehenden – und insbesondere den „klassischen“ – Tarot-Decks. Man kann es sich vielleicht so vorstellen, wie ganz unterschiedliche Menschen ein und dieselbe Person wahrnehmen. Ein Ehepartner wird andere Aspekte sehen als ein Kollege, ein Lieferant andere als ein Kunde. Oder der Postbote, der Hausarzt, der Steuerberater, der Trambahnfahrer. Alle sehen dieselbe Person aus ihrer individuellen Perspektive, aber man wird als Außenstehender vielleicht niemals auf die Idee kommen, dass die alle über den gleichen Menschen sprechen. Und diese unterschiedlichen Perspektiven halten wir mit den verschiedenen Tarot-Decks in der Hand.

Es geht bei verschiedenen Decks also „irgendwie“ schon um das Gleiche, aber manchmal ist das einfach nicht mehr klar erkennbar. Und tatsächlich muss es das auch gar nicht sein: Wenn die gewählte Perspektive sowohl in sich logisch stimmig, als auch mit meinen Bedürfnissen kongruent ist, dann brauche ich zunächst einmal keine anderen Perspektiven. Die gewählte passt ja soweit.

Aber widerspricht das denn nicht der Idee, dass die großen Arkanen (und sehr wahrscheinlich auch die kleinen!) Archetypen gemäß C. G. Jung darstellen? Darf es unter diesem Gesichtspunkt überhaupt substanzielle Unterschiede zwischen verschiedenen Tarot-Decks geben?

Ein Archetypus ist allerdings etwas, das man „in freier Natur“ nicht wirklich zu Gesicht bekommt. Die Archetypen entsprechen viel mehr der platonischen Ideenwelt, von der wir immer nur die schattenhaften Projektionen zu sehen bekommen, die die jeweiligen Kulturen und Zeitalter daraus bilden. Was wir in den Karten in der Hand haben, sind stets nur Symbole für die Archetypen, und die dürfen sich freilich voneinander unterscheiden.

Der Tarot ist – so genutzt – vielleicht sogar ein sehr tauglicher Lehrmeister, um einfache „schwarz/weiße“ Erklärungen zu hinterfragen und nach weiteren, zunächst verborgenen Bedeutungen und Wahrheiten zu suchen.

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

8. Schwierigkeiten mit den Herrschaften vom Hofe.

Bislang konnten wir uns ganz passabel auf „intuitive“ Weise mit den Tarotkarten auseinandersetzen. Dank Pamela Colman Smith haben wir ein Kartendeck, das sehr „szenisch“ aufgebaut ist und dadurch auch sehr offen für unsere Interpretationen ist. Das gilt sogar für die kleinen Arkanen, die in älteren Tarots (Wirth, diverse Varianten des Tarot de Marseille, usw.) noch ohne szenische Darstellungen auskommen mussten – da gab es nur die Farbsymbole in einer schönen symmetrischen Anordnung entsprechend ihrer Anzahl.

Ein paar Karten verursachen bei dieser von mir vorgestellten „naiven“ psychologischen Zugangsweise dann aber doch Schwierigkeiten. Auch im Waite-Smith-Tarot. Die Rede ist von den 16 sogenannten „Hofkarten“, also üblicherweise Page (Bube), Ritter, Königin und König in ihren vier „Farben“ Stäbe, Kelche, Schwerter und Münzen. Irgendwie sind sich da viele Karten geradezu extrem ähnlich:

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Die Ritter sitzen alle auf ihren Pferden, König und Königin thronen (und unterscheiden sich noch nicht einmal gegenseitig besonders deutlich), die Pagen stehen alle herum und so weiter. Machen die irgend etwas? Was geht in den Figuren eigentlich vor? Worum mag es bei diesen Karten gehen?

Warum ist das so, haben wir uns mit der psychologischen Herangehensweise vielleicht verrannt?

Tatsächlich scheinen viele Tarot-Bücher beim Thema „Hofkarten“ ähnlich herumzueiern wie wir jetzt. Manchmal sollen die Hofkarten auf Personen hinweisen, manchmal auf „Stimmungen“ oder Chancen, in anderen Deutungen ist dagegen von vier Stufen der Vervollkommnung der jeweiligen Farb-Charakteristik die Rede: Die „ungeformte“ Kraft beim Buben, „gerichtet“ beim Ritter, „erfahren“ bei der Königin und schließlich „etabliert“ beim König (etwa bei Katz & Goodwin: „Secrets of the Waite-Smith Tarot“, Llewellyn, 2015). Aus den Bildern selbst lässt sich all das noch nicht einmal mehr mit sehr viel gutem Willen herauslesen.

Bei der Analyse der Hofkarten haben wir zwei Themen:

  1. Die Zuordnung zu den vier „Farben“ Stäbe, Kelche, Schwerter und Münzen. Das ist noch vergleichsweise einfach und wird an späterer Stelle noch einmal weiter vertieft. Mit den Farben kann man sich den Hofkarten aber zumindest schon einmal nähern: Gehen wir davon aus, dass es 4 „Königreiche“ mit je einem König, Königin, Ritter und Pagen gibt. Diese Königreiche entsprechen bestimmten Lebenswirklichkeiten bzw. Energien.
  2. Die Unterschiede zwischen den „Rängen“ König, Königin, Ritter und Page. Das ist der weitaus kniffligere Teil.

Beginnen wir also mit den 4 „Farben“.

Den vier Farben werden (in der Tarot-Literatur übrigens erstaunlich einhellig!) bestimmte Energien, bzw. dahinter stehende alchemistische Elemente zugewiesen:

  • Die Stäbe stehen für Aktionen, Tatkraft, Veränderung, Energie aber auch Intuition – entsprechend dem alchemistischen Element Feuer. Als „Eselsbrücke“ mag man sich hier vorstellen, dass die Stäbe als brennbares Material als einzige das Element Feuer zu tragen vermögen.
  • Die Kelche stehen für Emotionen, „Mitschwimmen“ und Gefühle, für Phantasie, ungerichtete Energien  – und entsprechen dem alchemistischen Element Wasser. Auch hier ist der Weg der Assoziation kurz: Die Kelche können als einzige das Element Wasser beherbergen und tragen.
  • Die Münzen stehen für – na klar – Geld, aber viel mehr noch generell für Ressourcen (gerne auch psychologisch zu verstehen!), Materielles, Werke, Erdverbundenes – sie entsprechen in alchemistischem Sinne dem Element Erde. So wie das Erz für die Münzen aus der Erde stammt oder in weiterem Sinne die Erde selbst eine ebenso runde Gestalt aufweist wie die Münzen.
  • Die Schwerter stehen für Gedanken und Rationalität, der Begriff „scharfer Verstand“ kommt nicht von ungefähr – und entsprechen dem alchemistischen Element Luft. Ein Schwert kann durch die Luft schneiden, saust im Kampf durch die Luft wie auch umgekehrt ein kalter scharfer Wind etwas „Schneidendes“ an sich hat.

Das sind also schon mal recht deutliche Unterschiede zwischen den Farben, die auch leicht und einigermaßen intuitiv hergeleitet werden können. Das ist für unseren psychologischen Ansatz günstig. Die Farben sind sozusagen die „Herrschaftsbereiche“ der jeweiligen Hofkarten. Das Königspaar wird über die ihm zugeordnete Farbe „herrschen“. Aber die Schwierigkeiten der Hofkarten liegen eher darin, König, Königin, Ritter und Pagen zu unterscheiden.

Was fällt als Erstes auf?

Wir haben Männer-Überschuss! Ein König, ein Ritter und ein Page gegenüber nur einer Königin – ist das eine faire Verteilung? Tatsächlich haben viele modernere Tarot-Decks versucht eine Art Gleichberechtigung herzustellen und haben z.B. Ritter und Page in Prinz und Prinzessin umbenannt. Im Ergebnis haben wir eine sehr populäre Deutung der 4 Karten als jeweils 1 männliche und 1 weibliche reife Personen (König und Königin) und als jeweils 1 männliche und 1 weibliche noch unreife Person (Prinz und Prinzessin).

Das ist eine sehr schöne und symmetrische Lösung des Hofkarten-Problems und wir alle haben ja bei Symmetrien gerne den Eindruck, dass sie „richtiger“ sein müssen, als asymmetrische Lösungen. Die schöne Lösung der zwei „Pärchen“ hat aber ein kleines Problem: Sie ist ziemlich ignorant. Auf das Waite-Smith-Deck angewandt heißt das nämlich einfach zu ignorieren, was auf den Karten steht. Da gibt es nämlich genau 1 Pärchen: König und Königin. „Ritter“ und „Page“ sind weit davon entfernt, sich zu einem Pärchen zu ergänzen!

Freilich lassen sich durchaus Geschlechterstereotypen z.B. auf die „männlich-aktiven“ Ritter oder die „weiblich-passiven“ Pagen projizieren. Aber richtiger wird die Interpretation damit leider auch nicht. Und tatsächlich ist das „echte“ männlich-weiblich-Paar König und Königin einander bis hin zur sitzenden Körperhaltung extrem ähnlich, wir können niemanden etwa als eindeutig „aktiven“ oder „passiven“ Teil des Paares dingfest machen. Die Unterschiede liegen jeweils nur in kleinen Details. Die Klischees der männlich/weiblich-Zuordnungen jedenfalls greifen zumindest auf der Ebene der bildlichen Darstellung nicht.

Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Auch sollten wir getrost die „Ränge“ König und Königin als einander gleichwertig betrachten – man denke nur an die Queen in England, Königin Silvia usw. die als Regentinnen und Thronerbinnen die Macht (wenn auch heute nur noch die repräsentative Macht) inne haben, genau so wie Könige als männliche Thronerben in anderen Dynastien. Im Gegensatz dazu sind Ritter und Pagen keineswegs auf gleicher „Augenhöhe“.

Also haben wir mit dem König und der Königin zwei einander sehr ähnliche Karten und mit Ritter und Pagen zwei weitere Karten, die ganz unterschiedlich zueinander und zu dem Pärchen sind. Zusätzlich scheint der Page von allen die „jugendlichste“ Variante zu sein, sowohl was das dargestellte Alter der Figuren betrifft, als auch bezüglich der mittelalterlich-höfischen Rolle „Page“, auf die Bezug genommen wird.

Transaktionsanalyse und eine innere „Familie“.

Der amerikanische Psychologie Eric Berne hat im Rahmen seiner Transaktionsanalyse die Vorstellung vertreten, dass wir im Laufe unserer Entwicklung unsere Eltern und ihre Ansprüche und Forderungen an uns, aber auch ihre Fürsorge und ihren Schutz als quasi „innere Personen“ aufbauen, die zuweilen in unseren Interaktionen mit anderen Menschen das Ruder übernehmen und uns handeln/sprechen lassen wie unsere Eltern (bzw. das, was wir von ihnen verinnerlicht haben). Berne nannte das diese innere Person das „Eltern-Ich“.

Aber nicht nur die Eltern, sondern auch wir selbst als Kind hinterlassen Spuren in uns als erwachsene Menschen. Das „innere Kind“ kann unser Handeln steuern, man denke nur an den genialen Komiker Luis de Funès, der letztlich in vielen seiner Rollen ein tobendes, jähzorniges – aber eigentlich ein „kleines Kind“ dargestellt hat. Berne hat diesen Ich-Zustand das „Kind-Ich“ genannt (das übrigens auch ganz „brav“ und angepasst, ja überangepasst sein kann).

Und schließlich gibt es noch ein „Erwachsenen-Ich“, das rational agiert, im Diskurs mit anderen auch deren Standpunkte sieht und integriert, aktiv Entscheidungen fällt und die eigentliche und nicht beeinträchtigte erwachsene Person „in uns“ ist.

Eigentlich gar kein schlechtes Modell für unsere so problematischen Hofkarten. Wir können die vier Hofkarten als unsere inneren Repräsentanten der Eltern, unseres erwachsenen rationalen Ichs und unseres inneren Kindes sehen. Und je nach Farbe des Kartenblattes haben auch diese Repräsentanten eine „Färbung“, ein dominantes Grundthema, in dem sie eine Eltern-, Erwachsenen- oder Kind-Ich-Rolle einnehmen.

Bernes Theorie – wie fast alle tiefenpsychologischen Theorien legt großes Gewicht auf die Umwelteinflüsse speziell der Kindheit, die unsere spätere „Binnenstruktur“ ganz entscheidend formt. Man mag jedoch auch hier noch ergänzen, dass es wohl einen nicht zu unterschätzenden Anteil an unserer Persönlichkeitsstruktur gibt, die nicht unbedingt erlernt, sondern uns angeboren ist. Auch hier sollten wir von Einflüssen auf unsere inneren Eltern- Erwachsenen und Kind-Ichs ausgehen, etwa im Sinne von Talenten, „Leitsternen“, Neigungen usw. die nicht erst in der Kindheit geprägt wurden, sondern schon vorher da waren.

Warum zwei „Eltern-Ichs“?

In vielen Fällen sind unsere Mütter und unsere Väter ganz unterschiedlich zu uns. Berne unterscheidet etwa zwischen zwei Aspekten des Eltern-Ichs: einem kritischen Eltern-Ich und einem fürsorglichen Eltern-Ich. Und oft ist das durchaus auf z.B. eine kritische, strenge, fordernde Mutter (oder Vater) und einen fürsorglichen, unterstützenden Vater (oder Mutter) aufgeteilt. Wie – das ist bei jedem Elternpaar ganz unterschiedlich. Und so macht es schon Sinn, wenn wir als „Eltern“ zwei verschiedene Karten zur Verfügung haben.

Ob nun der König oder die Königin der kritische oder der fürsorgliche Part sind, das sieht man ihnen freilich von außen nicht an und das ist ja auch in jeder Familie ein Wenig anders gelagert.

Manchmal sind es übrigens gerade die erzieherischen (und anderen) Konflikte zwischen den beiden unterschiedlich denkenden und agierenden Elternteilen, die den „Zündstoff“ unserer Kindheit ausmachen.

Warum nur ein „Kind-Ich“?

Ähnlich wie bei den Eltern-Ichs unterscheidet Berne zwischen einem „angepassten“ Kind und einem „freien“ Kind. Im Tarot muss uns dafür eine Karte – die des Pagen – genügen. Allerdings ist hier im Unterschied zu den Eltern tatsächlich auch immer nur eine einzige Person „Kind“ gewesen, wenn auch bisweilen angepasst, dann trotzig „gegen-angepasst“, frei oder rebellisch.

Wenn wir uns auf diese psychologische Deutung der Hofkarten einlassen, dann haben wir ein sehr differenziertes Modell unserer eigenen Bewusstseinszustände (Eltern-, Erwachsenen- und Kind-Ich) innerhalb von vier grundlegenden Themenkreisen, die durch die vier Farben gebildet werden.

Und die Geschlechter der Ritter und Pagen?

Üblicherweise geht man davon aus, dass die Pagen und Ritter als „männlich“ gezeichnet wurden. Allerdings haben sie zum größten Teil sehr feine Gesichtszüge, so dass wir sie ohne Weiteres auch als weibliche Figur ansehen können, wenn eine Frau die Fragestellerin ist. Ihr inneres Kind-Ich und Erwachsenen-Ich ist selbstverständlich weiblich. Versuchen Sie es sich einfach mal konkret anhand der Karten vorzustellen – wirklich große Hindernisse hat uns Pamela Colman-Smith dafür nicht in den Weggelegt.

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

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7. Umgang mit multiplen Persönlichkeiten.

Gehen wir doch mal zum Teufel.

Der Teufel. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Der ist ohnehin eine ganz besondere Karte. Die meisten modernen Tarot-Autoren beteuern, dass alle Karten positive wie negative Seiten hätten, das sei selbst und ganz besonders beim von Tarot-Laien oft gefürchteten „Tod“ so, der im Übrigen ganz harmlos wäre und ganz bestimmt nicht das Ende Ihres Lebens andeuten möchte. Eigentlich ginge es ihm ja nur darum, unbequeme Veränderungen zuzulassen, die ohnehin nur zu unserem Besten seien. (Stimmt schon alles, also keine Sorge, wenn Sie den „Tod“ ziehen!)

Beim Teufel dagegen spricht niemand mehr von positiven Eigenschaften. Er stehe für Abhängigkeiten, Süchte, Zwänge, manchmal gar für die dunklen okkulten Mächte, heißt es dann. Der Höllenfürst, der Antichtrist, der Verführer.

Wenn wir ihn betrachten, könnte er eine finstere“ Variante des Magiers sein: Auch der Teufel zeigt „wie oben so unten“, allerdings weist sein Zauberstab nicht nach oben, sondern brennend nach unten. Neben dem Magier gibt es eine noch offensichtlichere „Geschwisterkarte“: Die Liebenden. Bei ihr blickt ein Engel von oben herunter – und die beiden Menschen sind auch freundlicherweise nicht angekettet, sondern verfügen über ihren freien Willen. So ein Lieber!

Trotzdem irgendwie ein klein wenig unfair gegenüber dem armen Teufel (zumindest dem auf unserer Tarotkarte), dass es so gar nichts Positives an ihm geben soll, oder?

Wenn wir uns – wie im letzten Beitrag beschrieben – mit einer der Figuren auf der Karte „der Teufel“ identifizieren, welche ist das dann? Viele von uns werden ganz spontan zu einem der beiden geknechteten Wesen (halb Mensch, halb Dämon) greifen, angekettet und unterdrückt vom Teufel, aber angesichts der recht lockeren Ketten um den Hals erfreulicherweise nicht ohne Hoffnung.

Das ist lustig, oder?

Der Teufel selbst ist etwa doppelt so groß und nimmt mit seinen Flügeln etwa 2/3 der Karte ein, aber wir wählen ausgerechnet lieber die kleine geplagte Figur ganz unten! Gibt es da ein Zögern, uns ausgerechnet mit dem Teufel zu identifizieren? (Wir sind ja schließlich „die Guten“…)

Das Zögern, sich auf solche Weise mit dem Teufel „einzulassen“ mag religiöse Hintergründe haben, es liegt aber sicher auch an dem, was jungianische Psychologen in der Karte sehen: Nämlich eine Darstellung des „Schattens“ in uns. Der „Schatten“, das sind alle diejenigen Bereiche unserer Persönlichkeit, die wir lieber wegsperren. Das, was wir für unpassend in uns halten, was unsere Maske nach außen gefährdet, was uns peinlich, unangenehm oder unangepasst ist, das was wir an anderen Menschen hassen weil wir es uns an uns selbst nicht eingestehen möchten.

Stellen wir uns aber trotzdem – nur so zum Spaß – mal vor: Der „Teufel“ auf dieser Karte, das sind ebenfalls wir, genauso wie wir auch die angeketteten kleinen „Unterteufelchen“ sind. So. Da gibt es also ganz unangepasste Anteile in uns, die wir lieber verstecken möchten, weil sie unserem gepflegten Selbstbild nicht entsprechen.

Was würde uns – aus einer solchen unangepassten Position heraus – als Erstes auffallen? Mit Sicherheit, warum wir uns überhaupt an den blöden Stein ketten lassen. Der Teufel selbst ist übrigens so frei, oben drauf zu sitzen. Und er könnte uns auch fragen, warum wir denn noch nicht bemerkt haben, dass die Ketten ziemlich locker sitzen!

Wenn wir die Karte „der Teufel“ auf diese Weise sehen, dann macht es sehr viel Sinn, nicht nur eine einzelne Figur als die unsere zu betrachten (schon gar nicht eine Randfigur), sondern das komplexe Zusammenspiel mehrerer Figuren als unser eigenes „inneres Theater“ zu studieren. Wir sind gleichzeitig die geknechteten kleinen Figuren und der Teufel. Und zudem auch noch der massive Klotz, an den die Figuren gekettet sind – der gehört natürlich ebenfalls zu unserem Inneren.

Und so wird aus dem Teufel dann doch noch eine positive Karte. (Klar, war sie schon immer!) Wir müssen nur begreifen, dass wie hier einen Teil von uns selbst vor uns haben, und dass der uns sehr hilfreiche, wenn auch erst einmal unangenehme Dienste leisten kann.

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6. Erste Zugänge zur Arbeit mit den Karten.

Wenn wir nun akzeptieren, dass alles auf einer Tarotkarte mit uns selbst zu tun haben kann – sei es als das, was uns umgibt und beeinflusst, sei es ein Teil unserer Selbst und dass es zudem von Bedeutung für uns ist, was uns der Zufall da präsentiert – dann können wir anfangen, die Karten zu lesen.

Ich möchte zunächst mit einzelnen Karten anfangen und die oft recht komplexen Wechselwirkungen für später aufschieben. Komplexe Legesysteme wie das „keltische Kreuz“ verleiten gerne zu einer Banalisierung der Bedeutung der einzelnen Karten, weil ja bereits eine gehörige Portion Komplexität durch das Legesystem selbst ins Spiel gebracht wird. Ich kenne kaum eine Fragestellung, für die nicht eine einzelne Karte aus dem Waite-Smith (oder einem vergleichbar komplexen) Tarot genügen würde, wenn man sich nur richtig mit ihr auseinandersetzt.

Gehen wir also davon aus, dass wir uns eine einfache „Tageskarte“ ziehen. Im Folgenden werde ich mich an den Waite-Smith-Karten orientieren, die hier beschriebenen Methoden funktionieren natürlich auch mit vielen anderen Decks (besonders mit den unzähligen Waite-Smith-Klonen).

Da liegt sie also.

Was ist unser erster Eindruck? Ist die Karte fröhlich, mystisch, bedrückend, geheimnisvoll, sachlich, irgendwie merkwürdig, lustig, positiv, unheimlich, kraftvoll, unbeschwert, starr, abstrakt, tröstlich, ambivalent, niedlich, depressiv, weise, spannend, erschütternd, nachdenklich, unklar? Beim ersten Eindruck sind noch keine Details relevant, es geht nur darum, wie die Karte ganz spontan auf uns wirkt.

Wenn Sie sich etwas unsicher sind oder zum Vergessen / Verdrängen neigen: Schreiben Sie sich einfach das erste Adjektiv auf, dass Ihnen beim Anblick der Karte einfällt.

Dann untersuchen Sie den Hintergrund. Welche Farbe hat der Himmel und der Boden, ist das eine Wüste oder eine Küste am Meer, Scheint die Sonne oder der Monde oder andere Himmelskörper? Wie könnte man den symbolischen Charakter der Landschaft beschreiben? Waren Sie schon einmal in einer emotionalen Wüste? In einer gedanklichen? Einer Wüste der fehlenden Aufgaben? Wofür stehen vereiste Gipfel? Für emotionale Kälte? Für intellektuelles „Überschreiten der Schneegrenze“? Für den Gipfel dessen, was wir erreichen können?

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in dieser Landschaft. Wie fühlen Sie sich dabei? Entspannt? Unsicher? Genießen Sie es oder fühlen Sie sich dort eher unwohl? Beachten Sie dabei noch gar nicht die Figuren, ob Mensch, Tier oder höheres Wesen, sondern versuchen Sie sich rein auf die Landschaft zu konzentrieren und wie es Ihnen dabei geht.

Gehen Sie dabei vom Gesamteindruck langsam weiter zu Details. Steht da vielleicht ein Baum (oder mehrere)? Andere Pflanzen? Wege? Wie sieht das Wetter aus, haben wir Wind, stehen Wolken am Himmel, usw.? Gibt es Gewässer, wenn ja: ist das ein Meer, ein Tümpel, ein Fluss? Haben wir spiegelglattes Wasser oder „raue See“? (Oder sogar beides, wie links und rechts vom Boot der „6 Schwerter“?) Ist überhaupt ein Boden zu sehen? Ist der Himmel zu sehen? Was macht das alles mit Ihnen? Sprechen Sie aus, was Sie fühlen oder machen Sie sich wieder Notizen, wenn das für Sie hilfreich ist.

Ist Ihnen die Schnecke bei den 9 Scheiben aufgefallen?

Die Schnecke ist ja bereits einer der „Akteure“ in der Landschaft, das ist unser nächstes Ziel: Welche Menschen, Tiere, Engel und andere Wesen befinden sich auf der Karte? Achten Sie auch auf die Anzahl – ist es nur eine Figur, sind es zwei, drei oder mehr? Wenn es mehr als eine ist, dann suchen Sie sich eine aus, die Sie spontan „anspricht“ (ansonsten gibt es ohnehin keine Wahl) und stellen Sie sich vor, dass Sie diese Figur sind. (Das kann übrigens auch die Schnecke auf der Karte „9 Scheiben“ sein!)

Achten Sie dabei zunächst auf die Körperhaltung: Was sagt sie aus? Nehmen Sie ruhig selbst ebenfalls diese Körperhaltung ein, versuchen Sie dabei auch die Mimik (sofern erkennbar) zu imitieren. Wie fühlt sich das an? Erinnern Sie sich noch, wie Sie die Landschaft gespürt haben? Verbinden Sie jetzt beides: Sie sind diese Figur in dieser Landschaft.

Wenn es weitere Figuren gibt: Findet da eine Interaktion zwischen Ihrer Figur und der/den anderen statt? Ist die Interaktion noch in vollem Gange oder bereits vorbei? Oder können Sie erahnen, dass es hier noch eine Interaktion geben wird? Was passiert da? Ist das freundlich, liebevoll, feindselig, abwehrend, unterstützend, usw. Wer macht was? Wie wird es nach der „Momentaufnahme“ weitergehen, die die Karte zeigt?

Und wieder: Sprechen Sie darüber (wenn Sie z.B. mit Ihrem Partner/Partnerin gemeinsam Karten ziehen), schreiben Sie die Ergebnisse auf. Das „Eintauchen“ in die Szenerie und die Identifikation mit einer der Figuren ist der wichtigste erste Schritt für einen psychologischen Umgang mit den Karten. Fürs Erste haben wir auch noch keine konkreten „Fragen an die Karten“ gestellt, wir wollen unsere hilfreichen Ratgeber erst einmal kennen lernen.

Als Übung können wir jeden Tag (oder auch morgens und abends) eine Karte zufällig ziehen und uns in der oben beschriebenen Weise mit ihr auseinandersetzen.

Im nächsten Schritt werden wir noch etwas tiefer einsteigen und uns nicht nur mit einer einzelnen Figur identifizieren, wir werden uns sogar mit den scheinbar „unbelebten“ Teilen der Karte identifizieren und feststellen, dass diese „multiplen Persönlichkeiten“ die Komplexität, aber auch die Einsichts-Möglichkeiten deutlich steigern.

Noch etwas später werden wir abwägen, ob und welche „symbolischen“ Ebenen der Karten wir mit einbeziehen möchten. Und schließlich können wir anfangen, mit mehr als nur einer einzelnen Karte zu arbeiten: Das ist dann nicht einfach eine lineare Steigerung der Komplexität, sondern wir beginnen unser Augenmerk auf die zahllosen Verbindungen und Querverweise zwischen den Karten zu legen.

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5. Psychologie im Tarot: Gepriesen seien die Zufälle!

Der Umgang mit dem Zufall ist sozusagen eines der konstituierenden Merkmale des Tarot. Wir ziehen eine oder mehrere Karten verdeckt aus einem gut gemischten Stapel von 78 verschiedenen Karten. Nach allem, was wir rational wissen: Zufall. Reiner Zufall. Und doch – da ist doch mehr dran?

„Es gibt keine Zufälle“ ist ein Spruch, den man in esoterischen (aber auch in psychologischen) Kreisen oft hört. Will sagen, das was uns passiert, das hat auch eine Bedeutung für uns. Nichts ist ein „läppischer Zufall“, den wir einfach abtun könnten. Nein, wenn wir genau hinsehen, dann hat alles, was uns begegnet erst einmal das Recht, von uns ernst genommen zu werden, mehr noch, es hat sehr wahrscheinlich unmittelbar mit uns selbst zu tun.

Das sind zwei ganz unterschiedliche Begriffe von Zufall, oder? Der erste – eher naturwissenschaftliche Begriff – sieht auf die Art der Entstehung eines Ereignisses. Und da haben wir zum Beispiel beim Ziehen einer einzelnen Tarot-Karte ziemlich genau die Wahrscheinlichkeit von 1:78, eine ganz bestimmte Karte zu ziehen. Mit etwas Geduld und wenn wir sorgfältig mischen, werden wir das in einem „Experiment“ auch empirisch nachvollziehen können.

Auf der anderen Seite steht aber ein ganz anderer Begriff vom Zufall: Nämlich der, was der Zufall denn psychologisch für uns bedeuten mag. Frühe Tarot-Autoren haben sich oft verzweifelt am naturwissenschaftlichen Begriff des Zufalls abgemüht, um die Wirksamkeit des Tarots zu beschreiben. Etwas wie „Magie“ wäre möglicherweise im Spiel oder C. G. Jungs Synchronizität (die dafür sorgt, dass akausale Ereignisse zusammen hängen), das uns alle verbindende Chi vielleicht auch. All das will ich nicht abstreiten, möglich ist alles Mögliche, sozusagen.

Dabei darf die Karte doch gerne „rein zufällig“ sein. Sie kann dennoch eine unmittelbare Bedeutung für mich aufweisen: Ich muss nur zulassen – und da sind wir wieder zurück beim Thema Psychologie – dass auch ein zufälliges Ereignis für mein Leben relevant sein darf. Und überhaupt: Welche Ereignisse in unserem Leben tragen denn nicht ein gutes Stück Zufall in sich, gerade wenn es um bedeutsame Wendepunkte in der Biografie geht!?

Erinnern Sie sich noch, wie Sie Ihre/n Lebenspartner/in kennen gelernt haben? Sofern Sie dazu nicht die Unterstützung einer professionellen Agentur in Anspruch genommen haben, war mit Sicherheit ein guter Anteil Zufall mit im Spiel. Und die Auswirkungen auf Ihr Leben? Ziemlich umfangreich, stimmt’s? Oder nehmen Sie schwere Schicksalsschläge: Todesfälle im engeren Familienkreis, Krankheit, Unfälle – überall werden wir eine ganze Menge an Zufälligem entdecken. Und wer würde leugnen, dass solche Ereignisse einen Einfluss auf uns haben, uns prägen und verändern?

Gehen wir einen kleinen Schritt weiter. Der Zufall ist überall, hat Einfluss auf unser Leben, auf das was aus uns geworden ist. Und es gab immer so etwas wie eine Interaktion zwischen uns selbst und dem, was uns das zufällige Schicksal präsentiert hat. Wir haben darauf reagiert (es zumindest versucht), und zwar auf unsere ganz persönliche Art und Weise. Und nun haben wir mit dem Tarot einen Mikrokosmos an Zufällen, auf die wir ebenfalls reagieren: Indem wir spontane Assoziationen entwickeln, Ideen haben, Gefühle, uns in den Bildern spiegeln. Auch das tun wir auf unsere ganz individuelle, einmalige Art und Weise.

Alles was dabei zu tun ist, ist zuzulassen, dass uns diese zufällig gezogenen Karten etwas zu sagen haben. Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Zufall, der in unser Leben tritt. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Zufällen des Lebens haben wir beim Tarot doch ganz aktiv danach gefragt, indem wir eine oder mehrere Karten gezogen haben. Wir haben uns bewusst auf ein „blind date“ mit dem Zufall eingelassen!

Und das Ergebnis wird aus eben diesen Gründen sehr viel mit uns selbst zu tun haben:

  1. Wir haben aktiv eine Frage „in den Raum“ gestellt. Das ist unsere ganz persönliche Frage!
  2. Wir reagieren ganz individuell auf die Bilder und Bedeutungsebenen der Tarot-Karten.

Wäre es nicht trotzdem schöner, wenn so eine Art „Magie“ hinter dem Ziehen der Karten steckt? Na klar! Vielleicht steckt da auch noch zusätzlich eine Magie dahinter und viele Menschen, die sich regelmäßig Tarot-Karten legen berichten von ganz eigenartigen, „über-zufälligen“ Ereignissen wie Karten, die immer wieder auftauchen. Aber selbst wenn es solche „magischen“ Ereignisse nicht gibt, wird das Legen von Tarot-Karten für uns funktionieren: Letztlich ist die Unterscheidung zwischen „Zufall“ und „Schicksal“ nur eine die im Kopf und nicht in der Realität stattfindet.

Das war jetzt ein arg trockener Beitrag, oder?

Im Prinzip geht es mir darum zu zeigen, dass Zufälle ganz allgegenwärtig unser Leben bestimmen und wir mit dem Tarot den Zufall in sehr kontrollierter Form nutzen können, um bislang vielleicht unbeackerte Felder unserer Psyche zu betreten. Wir behalten dabei alle Freiheiten, Dinge anzunehmen oder abzulehnen, nehmen aber ganz bewusst einen Überraschungseffekt in Kauf: Gehört das was ich da sehe tatsächlich zu mir? Hatte ich vielleicht gar nicht so erwartet! Wir müssen also entscheiden, was davon unser Inneres spiegelt und was vielleicht eher der Außenwelt entspricht und womit wir vielleicht gar nichts anfangen können.

Noch nicht ganz überzeugt? Ich bin auch noch nicht ganz fertig…

Der Zufall beim Ziehen einer Tarotkarte unterscheidet sich also nicht prinzipiell von vielen anderen Zufällen, selbst wenn diese unser Leben gravierend beeinflussen. Wichtiger als die Frage, ob ein Ereignis zufällig entstanden ist, ist die Frage, ob wir es als für uns bedeutsam akzeptieren und entsprechend darauf reagieren können.

Trotzdem könnten wir doch an Stelle einer zufälligen Auswahl uns ganz bewusst eine Karte aussuchen, um mit ihr zu arbeiten. Das wäre doch viel genauer auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten!? Es gibt doch bestimmt für mich als Person in einer bestimmten Fragestellung „passendere“ und „weniger passende“ Karten. Warum sollte ich die Auswahl dann dem Zufall überlassen?

Der Grund liegt in einem psychologischen Mechanismus, der besonders in der Tiefenpsychologie eine entscheidende Rolle spielt: Widerstand. Widerstand ist unser Schutzmechanismus gegen verdränget und uns unangenehme Inhalte. Wenn es also bei einer Fragestellung einen „blinden Fleck“ (verdrängte Themen) gibt, dann werden wir unbewusst dafür sorgen, dass diese verdrängten Themen ganz bestimmt nicht zum Vorschein kommen. Bei einer von uns selbst getroffenen Auswahl einer Karte werden wir womöglich gerade nicht diejenige wählen, die solche verdrängten Themen offen legt (die aber gerade dadurch wahrscheinlich für die Lösung der Frage wichtig ist), sondern eine möglichst „harmlose“ Karte, die uns hoffentlich weiter unsere gewohnten Bahnen gehen lässt.

Auch bei einer zufälligen Wahl können wir natürlich an eine „harmlose“ Karte geraten, wir haben aber wenigstens die Chance, dass Dinge auf den Tisch kommen die wir sonst vermieden hätten.

Und noch einen weiteren Grund gibt es für eine zufällige Auswahl: Wir neigen dazu, einem „Zufall“ (der vielleicht sogar „Schicksal“ ist) mehr Kompetenz bei ungelösten Fragestellungen zuzuschreiben als uns selbst. Schließlich haben wir es bis jetzt ja auch nicht verstanden, die Fragestellung zu lösen – sonst müssten wir nicht als ultima ratio die Tarotkarten befragen. Wenn wir – wie im ersten Beitrag erwähnt – das Vertrauen aufbringen, dass dieser (vermeintliche oder echte) Zufallsprozess des Karten-Ziehens uns tatsächlich etwas mitzuteilen hat, dann werden wir auch den größten Gewinn daraus ziehen.

Zuletzt: Es ist oft sehr hilfreich, ganz einfach und banal „überrascht“ zu werden: Eine völlig unerwartete (weil „zufällige“) Karte kann uns sehr heilsam aus dem Konzept bringen, aus der ersten Verwirrung können ganz neue Interpretationen unserer Situation und von uns Selbst entstehen.

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4. Psychologie im Tarot: Wo befinden wir uns im Tarot, psychologisch gesehen?

Dieser und der folgende Beitrag behandeln die Grundlagen dessen, was ich unter „psychologischem Umgang“ mit dem Tarot verstehe.

Die beiden Grundlagen-Themen sind einmal die Art und Weise, aus welcher psychologischen Perspektive wir die Karten und die dort gezeigten Szenen betrachten. Das zweite Thema (im nächsten Beitrag behandelt) kreist um unser Verständnis dessen, was wir „Zufall“ nennen und die Frage, ob wir uns damit ein Problem einhandeln oder nicht.

Neben vielen anderen Zugangsmöglichkeiten und Dimensionen wie Kaballa, Astrologie, Numerologie, überlieferte Bedeutungen usw. (ob diese nun den Karten inhärent sind oder zu späteren Zeiten clever dazu komponiert wurden sei egal) haben wir es beim Tarot stets und zuallererst mit Bildern zu tun. („Ach was!“) Im Falle des Waite-Smith und praktisch aller anderen modernen Tarots haben wir 78 szenische Bilder zur Verfügung. Liebhaber des Tarot de Marseille mussten sich bei den kleinen Arkanen immer schon mit Numerologie (Zahlenmystik) in purer Form herumschlagen. Für die folgende Vertiefung wähle ich das Waite-Smith Tarot aufgrund seiner besonders reichhaltigen und „lebensnahen“ Symbolik. Bei jedem dieser Bilder können wir mindestens zwei Perspektiven einnehmen:

  1. Diese Karte zeigt etwas, das außerhalb von mir passiert (und selbstverständlich Auswirkungen auf mich hat).
  2. Diese Karte zeigt etwas innerhalb von mir. Das ist besonders dann eine sehr spannende Perspektive, wenn es mehr als zwei Akteure auf der Karte gibt, etwa bei der Kraft. Dann ist ein Teil von mir (die Frau) dabei, einen anderen – wilderen! – Teil (den Löwen) zu zähmen.
  3. Mischformen, sobald mehr als ein „Akteur“ auf der Karte erkennbar ist. Das gilt auch bei Karten wie den „3 Schwertern“: Hier kann ich selbst das Herz sein, das durchbohrt wird, ich kann aber auch derjenige sein, der mit Hilfe der drei Schwerter das Herz (eines anderen Menschen) durchbohrt. Vielleicht bin ich – bzw. ein wichtiger innerpsychischer Teil von mir – aber auch die Schwerter selbst?

Die Grundfrage ist immer: Was auf dieser Karte bin ich selbst, was gehört zu mir, ist ein Teil von mir? Wo ist mein innerer kleiner Hund, der mich instinktiv warnt, wenn ich mich wie der Narr gefährlichen Klippen nähere? (Die Gefahr der Klippe in unmittelbarer Nähe des Narren ist übrigens eine der vielen genialen Neuerungen des Waite-Smith-Decks.) Was in mir sind die Abgründe und die Klippen? Ist das ein stabiles Bild, tanze ich zwischen den Abgründen im sicheren Wissen, dass mich meine Schutzmechanismen – der kleine weiße Hund – vor dem Absturz bewahren werden? Oder ist das eine Karte des dynamischen Übergangs, die nur einen Augenblick vor dem Verhängnis „fotografiert“ wurde? Und wenn sogar die Abgründe zu mir selbst gehören sollten: Vielleicht wäre es zwar närrisch, aber im Ende gar nicht so falsch, mich in sie fallen zu lassen? Vielleicht sind das verdrängte Themen aus Kinderzeiten, in die man jetzt, als erwachsener Mensch ohne Angst (und das ist die frappierendste Eigenschaft des Narren: er hat ganz offensichtlich keinerlei Angst!) hineinstolpern darf?

Wir sehen, mit nur einer einzigen unschuldigen Frage, „Was auf dieser Karte bin ich selbst?“ bewegt man sich sofort meilenweit weg von wahrsagerischen Deutungen und hin zu sehr intimen, ganz  persönlichen Themen. Zu einer psychologischen Perspektive. Und es liegt ganz und gar an mir, wie weit ich dabei gehen möchte, wie viel von dieser Karte ich „verdauen“ kann oder bereit bin als einen Spiegel meiner Seele zuzulassen.

Das ist übrigens auch der Grund, warum ich es für keine besonders gute Idee halte, sich die Karten von jemand anderem legen (und deuten!) zu lassen: Oft kommt da nichts anderes heraus als Zusammenschustern einer Erklärung „nach Kochrezept“, die in Wahrheit nur ich mir selbst geben kann.

Trotzdem wird mir manchmal eine solche „Botschaft“ der Karten fremd bleiben und ich kann dann nichts über diese möglichen Ingredienzien meiner Seele lernen. Vielleicht liegt das dann daran, dass tatsächlich mehr Fremdes als Vertrautes auf der Karte zu sehen ist. Vielleicht ist aber auch nur mehr Unbewusstes als Bewusstes auf der Karte und ich kann – aus guten Gründen des Selbstschutzes – das alles noch nicht als integralen Bestandteil meiner selbst zuzulassen.

Nehmen wir noch einmal den Narren. Was ist denn zum Beispiel von den vereisten Gipfeln im Hintergrund zu halten? Alles nur Deko? Oder bin ich möglicherweise auch das: kalt, entrückt, unnahbar? Spiele ich vielleicht nur den unbeschwerten oberflächlichen Toren, damit niemand merkt, wie weit abseits ich von „den Menschen im Tal“ bereits stehe? Es gilt abzuwägen, ehrlich zu sich selbst sein, manchmal auch nur darum: probeweise eine Hypothese anzunehmen, dass das ebenfalls mein Innerstes darstellt. Und dann abwarten, was das mit mir anstellt.

Mit der Frage „Was auf dieser Karte bin ich selbst?“ stoßen wir in Bereiche der Interpretation vor, die ganz fremd erscheinen und oft recht weit weg von den „überlieferten“ Bedeutungen sind. Manchmal vielleicht auf das krasse Gegenteil dessen hindeuten, was das „kleine weiße Büchlein“ schreibt, das sich bei meinem Stapel Tarotkarten befand. Willkommen auf der Reise in die Tiefe der Psyche!

An dieser Stelle werde ich übrigens wieder etwas milder, was die vielen „Klone“ des Waite-Smith Tarots oder die unzähligen Fantasy-, Hexen-, Mystik- usw. Tarots betrifft. Aus kreativer Sicht mögen so manche von ihnen recht mageres „Futter“ abgeben, weil die Hersteller es sich so offensichtlich einfach gemacht haben. Aber. Und das ist tatsächlich ein großes aber: Wenn es den Karten gelingt, dass man sich nicht nur in sie hinein versetzen kann, sondern umgekehrt herum die Bilder der Karten in sich selbst hinein lassen kann, dann ist schon eine Menge gewonnen. Es ist die Kunst von mit Symbolen aufgeladenen Bildern, dass sie in der Lage sind, unsere Abwehr-Bollwerke zu überwinden und wir sie nicht nur hineinlassen, sondern auch den Gedanken zulassen, dass ihre belebten und unbelebten Wesen vielleicht schon immer in uns enthalten waren

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Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

3. Warum die „Heldenreise“ uns nirgendwo hin führt.

Das Thema „Heldenreise“ zu kritisieren ist etwas heikel. Es gibt immerhin eine ganze Reihe von Büchern namhafter Tarot-Experten, die sich eben jener Heldenreise innerhalb der großen Arkanen angenommen haben. Hajo Banzhaf ist darunter, Elisabeth Haich oder Karen Hamaker-Zondag. Auch bei Rachel Pollack findet man einiges Interessantes dazu. Und höchst wahrscheinlich ist die Heldenreise (oder die Reise der eigenen spirituellen Entwicklung) tatsächlich eine der Dimensionen, unter denen sich der Tarot betrachten lässt.

Der Held der Reise – der Narr – bewegt sich durch die 21 anderen großen Arkanen, bis er am Ende in der „Welt“ aufgeht. Dazwischen lauern Hängen, Tod und Teufel, aber auch hilfreiche Wegweiser wie der Eremit oder die Mäßigung. Diese Helfer kommen nicht zwangsweise von außen, sondern können durchaus auch für den Erwerb innerer Tugenden sein: Nimmt man zu Eremit und Mäßigung noch die Gerechtigkeit und die Kraft dazu, hat man die vier klassischen Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit (Kraft) und Weisheit (Eremit).

Trotzdem glaube ich, dass diese Perspektive – wenigstens aus psychologischer Sicht – nicht besonders lohnend ist und im Gegenteil sogar so manche Probleme aufwirft.

Ganz trivial ist zunächst einmal das Problem der Makro- und der Mikro-Perspektive. Dieselben 22 Karten der großen Arkana, die für prägnante Stationen einer lebenslangen „Heldenreise“ (einer spirituellen Entwicklung) stehen, nutze ich auch, um eine vergleichsweise banale Tageskarte zu ziehen. Eigentlich sollte ich mich Jahre auf einer der 22 Stationen des Lebenswegs aufhalten, habe aber munter gestern „Das Gericht“ gezogen, heute bin ich wieder beim „Teufel“ und morgen ziehe ich „Die Welt“.

Das erzeugt dann erst einmal ein vages Gefühl, dass sich die Makro-Perspektive des Lebenswegs und die Mikro-Perspektive der Tageskarte zumindest nicht auf demselben Niveau befinden und daher auch besser nicht verwechselt werden sollten. Das gestern gezogene „Gericht“ kann ja schlichtweg nicht in vollem Umfang eine Lebensstation meinen. Diese Lebensstation würde sich nie auf einen einzigen läppischen Tag beschränken – nicht zuletzt aufgrund ihrer Bedeutung und der damit verbundenen Schwierigkeiten, sie zu meistern  und ihrer Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. So etwas braucht doch ein gerütteltes Maß an „Anlauf“ und wird danach meist noch eine ganze Weile „nachklappern“.

Das nächste Problem bezieht sich auf die Reihenfolge der Ereignisse, beziehungsweise der Lebensphasen. Sollte ein Entwicklungsprozess im Makro-Bereich (der sich also über mindestens Jahre, wenn nicht Jahrzehnte  zieht) nicht halbwegs linear sein? Gewiss gibt es immer wieder Rückschritte, aber nur extrem selten Sprünge ganz zurück an den Anfang und dann wieder zum Ende (vielleicht sogar zehn Stufen dabei überspringend!), sondern ich erobere mir meine nächste Stufe, integriere sie dabei idealerweise in mein Selbst, falle vielleicht nochmal auf die aktuelle Stufe zurück, aber im Großen und Ganzen bewege ich mich bei einer „Heldenreise“ nicht im Zickzack-Kurs. Wir reden hier nicht über komplizierte Beziehungskisten oder unkonventionelle berufliche Wege, sondern über grundsätzliche menschliche Reifungsprozesse. Wenn ich es gemeistert habe, „Tod“ und „Teufel“ hinter mir zu lassen, dann werde ich nicht als Nächstes nochmal als „Gehängter“ alles anders betrachten müssen, denn diesen Schritt sollte ich dann schon längst integriert haben.

Mir geht es nicht darum, die Vermutung „Tarot ist ein Spiegel der Heldenreise / des Lebenswegs“ grundsätzlich in Frage zu stellen. Es scheint mir nur bei einer alltäglichen Benutzung des Tarots keine besonders nahe liegende Perspektive zur Deutung der Karten zu sein. Wir werden später noch sehen, dass unsere bunten Karten noch eine ganze Menge weiterer Perspektiven vertragen, die alle ihre Berechtigung haben, aber: Die Frage ist, wofür wähle ich was?

Um nun doch noch einen Schritt weiter zu gehen: So gaaaanz schlüssig ist das mit der Heldenreise per se – auch unabhängig vom Brückenschlag zur alltäglichen Tarot-Nutzung – leider ebenfalls nicht, wenn wir etwas näher hinsehen.

Der Narr. Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Fangen wir beim Narren an. In moderner Deutung ist das der „Held“, der – naiv wie Parzival – auf die Reise geht, um die 21 Stufen der menschlichen Entwicklung zu meistern. Deshalb erhält er auch keine Nummer sondern die Null, bzw. wird in alten Decks tatsächlich ohne eigene Nummer dargestellt. Bei Waite-Smith passt das auch sehr gut: Der Narr ist jung und hübsch, eigentlich ganz gut gekleidet (wenn auch etwas zerfleddert durch die Reise), er scheint die Abgründe um ihn herum nicht zu sehen und wird durch sein Hündchen vor gröberen Fehltritten beschützt. Ganz anders bei den älteren Tarots von Oswald Wirth, beim Tarot de Marseille oder im Visconti-Sforza Tarot: Hier ist der Narr noch ein heruntergekommener Landstreicher, er ist möglicherweise sogar geistig verwirrt. Das ihn in manchen Darstellungen begleitende Tier (Hund, Katze) beschützt ihn nicht, sondern fällt ihn an und beißt herzhaft in sein Bein. Zumindest ein paar leise Zweifel scheinen mir angebracht, ob der Narr der frühen Tarot-Decks tatsächlich als „Held“ einer Heldenreise gedacht war. Bewiesen ist mit solchen Zweifeln freilich noch nichts.

Der Magier. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Nicht weniger problematisch ist der Magier. Zumindest bei Waite-Smith war das für mich immer die kraftvollste Karte im ganzen Stapel. Was für eine Körperhaltung! Eine Mischung aus lässig-entspannt, demonstrativ gegenüber uns als zuschauendem Publikum und gleichzeitig bis zum Rand mit Energie aufgeladen, die zwischen den beiden Polen, die durch seine Hände aufgespannt werden, fließt. Beinahe wie einen Blitzableiter hält die rechte Hand den magischen Stab und leitet die Energie „von oben“ durch den Körper und die linke Hand „nach unten“. Wie oben, so unten ist eine der Kern-Lehren der Esoterik überhaupt – und genau das demonstriert uns dieser Magier in vollendeter Weise. Vor sich auf dem Tisch liegen – ihm zu Diensten – alle vier „magischen Instrumente“ (bzw. Elemente), die die Quintessenzen zu den 56 kleinen Arkanen darstellen. Worauf will ich hinaus? Na ja, dieser unglaublich kraftvolle und mit allen magischen Mächten ausgestattete Magier ist erst die allererste, kleinste und mickrigste Stufe von allen. An dieser Stelle möchte ich also weitere ganz leichte Zweifel an der Story von der Heldenreise anmelden. Und nebenbei: Der Magier hat eine erhebliche Umdeutung durch Waite-Smith erfahren, wenn wir uns den Jahrmarktsgaukler auf dem Marseille- oder Visconti-Sforza Tarot betrachten.

Die Karten 1 bis 5 sind überhaupt komisch.

Oft wird ja im Sinne der Heldenreise argumentiert, der Magier und die Hohepriesterin seien die „himmlischen“/spirituellen Eltern, die Herrscherin und der Herrscher dagegen die „irdischen“ Eltern des Helden [z.B. Banzhaf, „Tarot und der Lebensweg des Menschen“, Kailash, 2005]. Die Interpretation ist zweifellos möglich, wirkt aber trotzdem irgendwie „bemüht“. Das Problem an dieser Interpretation ist: wir verschenken hier vier Karten für zwei ominöse Elternpaare, die aber abgesehen von ihrer Elternschaft keinerlei, wirklich keinerlei weiteren Beitrag zur Geschichte der Heldenreise leisten. Machen die irgendwas besonderes mit dem Helden, außer als sie selbst da zu sein? Wie geht es dem Helden vor / nach diesen vier Karten? Warum kommen erst die spirituellen und dann die weltlichen Eltern? (Bei einer spirituellen Entwicklungsreise würde ich das eher anders herum erwarten.)

Und wenn es gar nicht die Eltern sind? Dann haben doch ihre Themen – nämlich die Beherrschung der magischen Kräfte, spirituelles Geheimnis / Mystik, schöpferisches Erzeugen von Neuem, Beherrschung von Strukturen (und jeweils noch einiges mehr) – nicht besonders viel auf den „Startplätzen“ der Heldenreise verloren. Ganz im Gegenteil, man würde sie sogar eher gegen Ende der Reise erwarten! Und dann ist da noch Nummer 5! Passt der Hierophant denn nicht viel besser zur Hohepriesterin!? In früheren Tarots hießen sie sogar „Papst“ und „Päpstin“, zudem haben beide (bei Waite-Smith) ein Säulen-Paar im Hintergrund, was aber wieder den Magier außen vor lässt und damit das schöne Pärchen-Spiel mit „himmlischen Eltern“ / „irdischen Eltern“ in Frage stellt.

Zudem entdecken wir die Lemniskate (die liegende 8, die für die Unendlichkeit steht) nicht nur über dem Kopf des Magiers, sondern (bei Waite-Smith) ebenso bei der weiblichen Figur der Stärke. Sind das nicht viel eher zwei, die zusammen gehören? Oder gehören gar der Magier und die Gerechtigkeit als Paar zusammen? Die Gerechtigkeit zeigt nämlich – etwas verbrämt durch die Gegenstände, die sie in den Händen hält – die gleiche Hand-Symbolik „Wie oben so unten“ (einer DER Grundsätze der Esoterik) des Magiers! Wir haben also auch bei den beiden „Elternpaaren“ zu Beginn der Heldenreise ganz leise Zweifel, ob das denn alles wirklich so eindeutig ist.

Und wenn wir ehrlich sind, stellt keine der 5 Karten einen echten „frühen“ Entwicklungsschritt dar.

Blicken wir doch mal ans andere Ende des Tunnels. Dort sitzt die Welt. Ist denn nicht das Aufgehen, die Auflösung des Individuums in der Welt das Ziel der Entwicklung? Aber ein wenig komisch ist die Karte ja doch: Bereits im Tarot de Marseille tanzt hier ein nahezu nacktes Fräulein in einem ovalen Kranze auf uns zu. Soso, da tanzt was Nacktes aus etwas Ovalem heraus, was könnte das nur sein? Nein! Doch! Ooh!! Könnte hier eine Geburt gemeint sein? Passt die Geburt – falls sie denn gemeint sein sollte – denn nicht eher zum Anfang einer Heldenreise? Geht hier denn nicht die ganze Misere los mit unserer Suche nach Individuation, nach Spiritualität und nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Weitere Zweifel gefällig? A. E. Waite hat bei seinem Tarot-Deck die traditionelle Reihenfolge der Karten verändert. Aus der Nummer 8 „Gerechtigkeit“ wurde die Nummer 11, und die zuvor dort befindliche „Kraft“ wurde auf die 8 degradiert. Ist das denn im Sinne der Heldenreise egal? Zwischen den beiden Positionen liegen immerhin der Eremit und das Rad des Schicksals – im Sinne einer „Story“ dürften das durchaus kritische Stationen sein, für die es keineswegs egal sein kann, was vorher und was nachher passiert.

Wenn wir noch etwas weiter in die Vergangenheit des Tarot blicken, dann gab es da noch ganz andere Anordnungen der Karten. In frühen Tarots aus Ferrara beispielsweise war die Herrscherin die zweite Karte und die Päpstin (die heutige Hohepriesterin) befand sich auf Platz 4, unmittelbar vor ihrem männlichen Pendant, dem Papst. In alten Tarots aus Bologna war nicht die Welt die letzte Karte der „Heldenreise“, sondern das Gericht.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich kann man mit den 22 großen Arkanen eine Heldenreise erzählen. Aber man wird dabei auch auf mehr als nur eine Ungereimtheit stoßen, sobald die Reihenfolge der Stationen dieser Reise eine Rolle spielt. Dennoch möchte ich gerade die Heldenreise zu einem späteren Zeitpunkt – mit etwas mehr Rüstzeug im geschulterten Beutel des Narren – erneut aufgreifen.

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2. Familientreffen: Welcher Tarot soll es denn sein?

Wenn man sich heute mit Tarot beschäftigen möchte, dann ist eine der ersten Hürden die Frage nach dem passenden Tarot-Deck. Es gibt derzeit etwa 1.000 verschiedene Decks, davon sind etwa 400 im Handel erhältlich.

Das ist ganz schön viel (mal wieder).

Beim Tarot gibt es immerhin so etwas wie einen Familienstammbaum mit Ahnen und Urahnen und dann noch die ganze buckelige Verwandtschaft. Die Vorläufer des Tarot waren tatsächlich Spielkarten, es gab prägende Einflüsse aus China und insbesondere auch aus dem mittelalterlichen Islam (Mammeluken). Der Tarot ist in gewisser Weise ein Resultat von einem gerüttelten Maß an „Multikulti“.

Die ältesten eigentlichen Tarot-Karten, die man auch als solche erkennen würde, stammen aus dem 15. Jahrhundert: Der Visconti-Sforza-Tarot und der Sola-Busca-Tarot. Der Visconti-Sforza-Tarot ist sehr aufwändig gestaltet, handgemalt und mit Blattgold verziert und zeigt bereits die großen Arkanen der modernen Tarot-Karten in aus heutiger Sicht einigermaßen vertrauter Darstellung, wenn auch ursprünglich ohne die heutige Nummerierung. Anders der Sola-Busca-Tarot: Hier sind die großen Arkanen aus der Geschichte des römischen Reiches entnommen und dafür aber die kleinen Arkanan durchgängig mit szenischen Illustrationen versehen. Fotografien der Karten waren 1907 im British Museum ausgestellt und dienten wahrscheinlich Pamela Colman Smith als Anregungen für einige ihrer eigenen Illustrationen im 1909 erschienenen Waite-Smith-Tarot. Dazu später mehr.

Wir springen 300 Jahre weiter in das 18. Jahrhundert. Der Tarot de Marseille. Die Darstellungen sind recht „grob“ und mit flächigen, plakativen Farben koloriert – die Karten sind per Holzschnittt-Druck erstellt. Im Gegensatz zu den kostbaren handgemalten Unikaten der Renaissance haben wir es hier also mit einer „Massenproduktion“ mehrerer verschiedener Hersteller zu tun. Wir finden kaum noch Abweichungen zu den modernen Bezeichnungen, die kleinen Arkanen sind allerdings nicht situativ bebildert.

150 Jahre später wird es  erstmals esoterisch. Oswald Wirth hat zum Ende des 19. / Beginn des 20. Jahrhunderts ein Tarot entwickelt, das zunächst nur wie ein weiterer Marseiller Tarot aussieht, aber bei ihm hantiert erstmals der Magier mit den vier magischen Werkzeuge Stab, Kelch, Münze und Schwert, der Wagen wird nicht mehr von Pferden, sondern von zwei Sphingen gezogen, usw. Die Tarot-Karten wurden also „angereichert“, eine Technik die von Waite und Smith noch sehr viel radikaler weiter entwickelt wurde und die heute Standard bei neuen Tarot-Decks ist.

Dann kam das wahrscheinlich einflussreichste Tarot-Deck von allen:

Zwei Mitglieder des „Order of the Golden Dawn“, Pamela Colman Smith als Zeichnerin und Arthur Edward Waite mit seinem weitreichenden esoterischen Wissen haben einen Tarot geschaffen, der bis heute mit großem Abstand der bedeutendste Tarot von allen wurde. Die Geschichte dieses Tarot-Decks ist mindestens eine eigene Abhandlung wert, eine sehr lesenswerte Darstellung findet man bei Katz und Goodwin: „Secrets of the Waite-Smith Tarot“.

Was ist so besonders am Waite-Smith (manchmal auch nach dem ersten Verlag „Raider“ als „Raider-Waite“ benannt)? Wie bei kaum einem anderen Tarot sind hier die Illustrationen mit Symbolen quasi „aufgeladen“, zudem gibt es über diese reichhaltige Symbolsprache ein ganzes Netzwerk an Querverweisen zwischen den Karten, sowohl bei den großen als auch den kleinen Arkanen. Pamela Colman Smith hat in überragender Weise Emotionen in die Körpersprache der Akteure auf den Karten übertragen – ein Blick genügt und wir wissen sofort, um was es hier jeweils geht.

Im Vergleich zu allen Tarots zuvor ist das Waite-Smith-Deck ein Quantensprung: Weg von „holzschnittartigen“ Figuren wie noch im Tarot de Marseille und hin zu „theatralischen“ Szenerien mit realistischer Körpersprache. Pamela Colman Smith war nicht umsonst bei der Illustration vieler Theaterprojekte involviert.

Springen wir in die Gegenwart. Ein großer Teil aller modernen Tarot-Decks sind im Grunde Variationen und Interpretationen eben dieses Waite-Smith-Tarots. Es gibt ganz direkt abgeleitete „Klone“ wie das „Universal Waite Tarot“ oder das „Radiant Waite Tarot“, bei denen lediglich die Kolorierung nach heutigem Geschmack etwas „gefälliger“ gemacht wurde, es gibt Neu-Zeichnungen der im Prinzip gleichen Szenerien, wie das „Morgan-Greer Tarot“ oder das „Hanson-Roberts Tarot“, eine Darstellung mit Gummibärchen als Darsteller, Übertragungen in ein anderes Habitat wie der beliebte „Druid Craft“ Tarot, bei dem sich alles unter, na? Druiden abspielt, daneben aber auch recht originelle Arbeiten wie den „Vice Versa Tarot“, bei dem versucht wird, die ursprünglichen Szenen des Waite-Smith Decks von einer anderen Seite aus mit bis dahin unsichtbaren Details zu zeigen oder der „After Tarot“, bei dem man Einblicke gewinnt, was denn „nach“ den berühmten im Waite-Smith-Tarot festgehaltenen Momenten passiert sein könnte.

Neben Waite-Smith und ihren zahllosen Epigonen gibt es aber noch einen weiteren Giganten: Crowley – ein ebenso begabter wie irritierender Polarisierer. Um den Thoth Tarot von Aleister Crowley und der Malerin Frieda Harris ranken sich viele Mythen, die meist in der bis heute umstrittenen Persönlichkeit Crowleys ihren Ursprung haben – bis hin zur Mutmaßung, diese Karten seien „schwarzmagisch“.

Die Karten selbst sprechen eine ganz andere Sprache: farbig, leuchtend, symbolisch hoch angereichert und wie der Waite-Smith Tarot mit einigen erstaunlichen Neuerungen. Die Karte „Rad des Schicksals“ heißt jetzt „Glück“, die „Kraft“ wurde zur „Lust“ und die Kardinaltugend „Mäßigung“ zur „Kunst“. Crowley war ganz offensichtlich kein Katholik (im Gegensatz zu Waite und Smith)…

Dabei scheint sich der Crowley-Harris Tarot enger an die Ideen des „Order of the Golden Dawn“ zu halten, die Hinweise auf Bezüge zu Astrologie und Kabbalah und anderem hermetischen Wissen sind im Vergleich zu Waite ganz offen und unverschleiert. Lady Frieda Harris, die Künstlerin hinter den Bildern war ebenso wie Crowley Mitglied im „Ordo Templi Orientis“, einem Nachfolger des „Golden Dawn“. Die Karten wurden zwischen 1938 und 1942 gemalt, eine erste Veröffentlichung 1944 fand im Rahmen des Buches „Book of Thoth“ statt, als Kartendeck allerdings erst im Jahr 1968, über 20 Jahre nach dem Tod Crowleys im Jahr 1947! (Immerhin finden wir 1967 ein Foto von Aleister Crowley auf der Collage zum Beatles-Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“.)

Ein wunderschönes zweibändiges Werk zu Leben und Tarot von Aleister Crowley stammt übrigens vom (leider 2017 verstorbenen) Schweizer Okkultisten Akron: „Akrons Crowley Tarot Führer“.

Wir sind noch nicht fertig…

Natürlich gibt es auch einige Crowley-Klone (deutlich weniger als bei Waite), aber auch einige sehr spannende und vollständig unabhängige Decks, die von inspirierten Künstlern / Künstlerinnen der letzten Jahre stammen:

Margarete Petersen (Absolventin der Hochschule für Bildende Künste, Berlin) hat über 22 Jahre an ihrem Tarot-Deck gemalt, das 2001 veröffentlicht wurde – ein farb- und bildgewaltiges Panorama zwischen Symbolismus uns Surrealismus. Hier finden wir den seltenen Fall, dass jemand in aller Konsequenz und Ausdauer dem eigenen spirituellen Pfad gefolgt ist, zugleich aber auch ein überragendes technisch-malerisches Können mitbringt und beides zusammen zu einem höchst inspirierten Ergebnis geführt hat. Zu diesem Deck empfiehlt sich ihr sehr lesenswertes Buch „Narrensprünge“.

Hermann Haindl – ursprünglich ein versierter Bühnenbildner hat später eine zweite Karriere als Maler begonnen und hat mit dem „Haindl Tarot“ ein Werk geschaffen, das die spirituellen Traditionen Europas, Indiens, Ägyptens und Nordamerikas vereint. Die Bilder haben einen ganz eigenen Traumwelt-Charakter. Rachel Pollack – eine der ganz großen Tarot-Expertinnen weltweit – hat dazu das Arbeitsbuch „Der Haindl Tarot“ geschrieben und im Verlag Königsfurt Urania ist 2017 ein prächtiger Bildband zu „Leben, Werk und Tarot von Hermann Haindl“ erschienen.

Auch der schon hier genannte Akron (Charles Frey) hat einen Tarot, den Akron-Tarot geschaffen, gemalt von Siegfried Otto Hüttengrund mit alter Holzriss-Technik, oft düster und geheimnisvoll, aber mit Bildern, die sofort „sprechen“.

Es gäbe hier noch mehr spannende Entdeckungen: Der ebenfalls etwas düstere „Mary-El Tarot“ von Marie White, der leuchtend bunte „Langustl-Tarot“, Siolo Thompsons be-/verzaubernder „Linestrider-Tarot„, Carl-W. Röhrigs sehr moderner Tarot – im „Phantastischen Naturalismus“ gemalt oder auch der bemerkenswerte „Sentenzia“ Tarot von Eva-Christiane Wetterer und Anja-Dorothee Schacht, der das Wort (und dessen gekonnte typografische Darstellung) in den Mittelpunkt stellt. Der „Wild Unknown“ Tarot von Kim Krans ist ein sehr minimalistisch illustrierter Tarot, der sehr viel mit wenigen Strichen transportiert.

Und sonst? Natürlich ist neben diesen Perlen auch viel Mittelmäßiges auf dem Markt, entweder sofort als Waite-Klon (gähn) erkennbar oder einfach nach dem Motto „wir machen mal einen Tarot zum Thema XYZ“ (Vampire, irgendwas „gothic“-artiges, junge Hexen, alte Wälder, vielleicht ein Kinofilm, was auch immer…). Schnarch.

Wer es bis jetzt noch nicht bemerkt hat: Ich liebe die verschiedenen Tarot-Karten, die wertvollen Decks zeichnen sich dadurch aus, dass sie tatsächlich neue, bislang verborgen gebliebene Aspekte ans Tageslicht befördern. Bei aller Sammel-Leidenschaft sollte man daher schon etwas höhere Maßstäbe ansetzen und diejenigen aussortieren, die im Grunde nur „alten Wein in neuen Schläuchen“ anbieten. Umso mehr Zeit bleibt für die Beschäftigung mit den „großen“ Decks, die in der Lage sind, einen auch nach Jahrzehnten der Beschäftigung zu überraschen. Zum Kartenlegen taugen freilich auch die nicht ganz so tollen Karten.

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1. Was ich über Tarot gelernt habe, was ich nicht gelernt habe und was ich vielleicht noch lernen werde.

Die bunten Karten begleiten mich jetzt schon seit ein paar Jahrzehnten, nachdem ich als Jugendlicher – auf der Suche nach „okkulten Wahrheiten“ – darauf gestoßen war. Damals (Anfang der 80er Jahre) hatte ich meine erste Begegnung mit esoterischer Literatur, war abwechselnd begeistert, skeptisch und verwirrt. Rudolf Steiner konnte also Auren sehen, hmm, und Aleister Crowley hatte, so hieß es wenigstens, mindestens eines seiner Bücher mit Hilfe der Einflüsterungen von einem Dämon geschrieben. Wie das wohl war – „Herr Crowley bitte zum Diktat“?

Am interessantesten aber waren die Tarotkarten. Sie gab es aber nicht nur vom Herrn Crowley, sondern auch noch von einem gewissen Rider Waite. Außerdem konnte man ja auch noch pendeln, Horoskope ausrechnen und Herr von Däniken berichtete über außerirdische Mayas. So in etwa stellte sich mir das damals dar. Mit 14 Jahren ist die Welt verwirrend, aber wenigstens noch übersichtlich.

Ein paar Jahre später habe ich dann Psychologie studiert und meine esoterischen Interessen wurden erst einmal zurückgestellt für die rationale Sicht der Naturwissenschaft und ihre Erklärungsmodelle dafür, was uns Menschen im Innersten bewegt. Geblieben ist mir aber stets die Faszination der Tarotkarten, ihr noch nicht einmal auf den zweiten oder dritten Blick vollständig durchschaubarer Reichtum an Symbolen und Bedeutungsebenen, aber auch mein Staunen über die „Treffsicherheit“ dessen, was mir die Karten bei jeder Legung eröffneten.

Wie war das möglich? Also doch so etwas wie Magie?

Viele Kenner des Tarot würden sagen: Ja klar, da ist definitiv noch „mehr“ dahinter. Die wahrscheinlich meisten Bücher zum Thema Tarot beschäftigen sich mit dem „wahrsagerischen“ Aspekt der Karten. Trotzdem ist die Divination nicht die einzige Seite des Tarots, die betrachtenswert ist. Arthur Edward Waite (der mit-Schöpfer des heute bekanntesten Tarots) hielt zum Beispiel von dieser Sicht herzlich wenig. Ihm waren die (damals streng geheim gehaltenen) Aspekte eines spirituellen Reifungsprozesses, der sich in den Karten widerspiegelt viel wichtiger. Spätere Interpreten sahen in den 22 großen Arkanen die Darstellung einer Heldenreise, wie wir sie in vielen Mythen der Welt finden und wie sie in allgemeiner Form Joseph Campbell in seinem richtungsweisenden Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ beschrieben hat.

Wieder andere Tarot-Autoren sahen in den Karten eine Überlieferung altägyptischer Weisheit oder verbanden die 22 großen und 56 kleinen Arkanen mit anderen hermetischen Wissensgebieten wie der Astrologie, der Alchemie oder mit den tiefgründigen Aspekten der Kabbala. Auch Verknüpfungen mit dem Neuheidentum, mit Schamanismus, Runen, I Ging, dem hebräischen Alphabet, Numerologie, indianischer Religion usw. gab es. Wenig davon ist bei näherer Betrachtung wirklich überzeugend und in sich stimmig, obwohl jedes dieser esoterischen Systeme für sich genommen sehr wertvoll und hilfreich sein kann.

Und Psychologie? Hier finden wir vieles in der Nachfolge von C. G. Jung: Die Arkanen als Archetypen, das Verfahren des Kartenlegens als ein Prozess der Synchronizität – Jung hat sich intensiv mit verschiedenen Aspekten des „Okkultismus“ beschäftigt.

Speziell die von Jung direkt beschriebenen Archetypen finden wir direkt 1:1 in unseren Karten: der Schatten (der Teufel), der Alte (der Eremit), das Kind (die Sonne), die Mutter (die Herrscherin), das Mädchen (die Hohepriesterin), Anima (Kraft) und Animus (der Magier). [z.B. Zum psychologischen Aspekt der Korefigur, Edition C.G. Jung, Patmos, Band 9/I, Patmos]

Ganz schön viel, oder? Dazu noch unterschiedlichste Lesarten der Karten, von den Myriaden verschiedener Decks ganz zu schweigen. Und das waren jetzt nur ein paar Stichworte zu Themen, die ich persönlich kennenlernen durfte. Und ich kenne ganz bestimmt nicht alles, was man über Tarot wissen kann.

Die Frage stellt sich also:

Bringt man das alles noch unter den sprichwörtlichen Hut oder endet man in einer vollständigen Beliebigkeit?

Ist denn – ganz ketzerisch gefragt – vielleicht eine solche Beliebigkeit am Ende sogar das Erfolgsrezept des Tarot, weil sich niemand wirklich festlegen muss? Nach dem Motto: „Widersprüche zwischen verschiedenen Lesarten? Egal! Soll jeder mal machen, wie’s grad passt.“

Dieser Blog soll dazu dienen, die Dinge etwas zu ordnen und dazu meine ganz persönliche Sicht des Tarot darzulegen. Es soll nachvollziehbar sein, dass der Tarot als extrem reichhaltiges Symbolsystem offene Punkte in uns sozusagen „zum Schwingen“ bringen kann. Und zwar höchst präzise. Ich möchte auch zeigen, was man dafür konkret tun kann und was man dabei wissen sollte.

Zum Schluss noch ein etwas paradox klingender, aber für den Umgang mit den Karten sehr wichtiger Punkt: Damit uns die Karten genau die richtigen Botschaften sagen können, die komplett „ins Schwarze“ treffen, muss ein gewisses Vertrauen darauf vorhanden sein, dass sie genau dazu in der Lage sind. Das ist so in etwa wie die Sache mit den Placebos: In einem Placebo steckt kein „Wirkstoff“ im eigentlichen Sinne, aber trotzdem haben sich Placebos in vielen Studien (je nach Krankheitsbild freilich unterschiedlich ausgeprägt) als sehr wirksam gezeigt, auch gegenüber „echten“ Medikamenten, z.B. Schmerzmitteln. Wir müssen nur davon überzeugt sein, den Rest macht ein bis heute nicht ganz verstandenes Zusammenspiel von Körper und Geist.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. http://www.koenigsfurt-urania.com/