Karte im Detail: Die Sonne

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Die Sonne, so wie sie von Pamela Colman Smith gezeichnet wurde, ist eine frappierende Darstellung des „Kind-Archetypus„, wie ihn C. G. Jung beschrieben hat [C. G. Jung: Zur Psychologie des Kindarchetypus, 1940 in Edition C. G. Jung Bd. 9/I]. Die Sonne selbst, generell runde Symbole, z.B. die Sonnenblumen im Hintergrund gehören ebenso zu diesem Archetypus wie auch die Unterstützung durch ein hilfreiches Tier. Überhaupt Tiere: Der Tarot von Pamela Colman Smith und Arthur Edward Waite wimmelt ja im Grunde von Tieren: Fische, Vögel, jede Menge Pferde, Schlangen, eine Katze, ein Krebs, eine Schnecke, ein Wolf, ein paar Fabelwesen und natürlich einige Hunde. Bevor wir in die übliche Analyse von Szenerie und Akteuren auf der „Bühne“ der Karte einsteigen, möchte ich den Kind-Archetypus noch etwas vertiefen (oder auch vertiefenpsychologisieren, wenn man so will).

Ein kurzer Ausflug in die Tiefenpsychologie von C. G. Jung.

Im Sinne eines Kind-Archetypus sollten wir etwas näher auf eine der berühmtesten „Kind“-Geschichten überhaupt einzugehen – gemeint ist natürlich das Christkind und die ganze darauf folgende höchst dramatische Entwicklung von Christus als Erlöser bis zum Opfertod am Kreuz und weiter. Der Beginn dieser Geschichte allerdings liegt in einer Krippe, neben der wir Ochs und Esel als hilfreiche Tiere finden. Die Natur selbst scheint das kostbare Kind zu schützen.

Das Wesen des Kind-Archetypus gehört allerdings zu den „schwierigeren“ Archetypen, die man bei C. G. Jung finden kann, es wird schon einigermaßen mystisch: Der Ursprung des Kindes liegt im leidvollen Konflikt einer Dualität (nämlich zwischen dem entwicklungsgeschichtlich vergleichsweise jungen Bewusstsein und dem uralten Unbewussten). Daraus schafft unser Unbewusstes etwas Drittes, Irrationales – und das ist das Kind mit der wundersamen Geburt. Der Legende nach ist übrigens die Geburt Gautama Buddhas nicht weniger wundersam als die von Jesus Christus.

Wir finden zunächst ein gefährdetes (und in anderen Mythen sogar verlassenes) Kind. Es steht zwischen dem Unbewussten, das unser (aus der Entwicklungsgeschichte noch ziemlich junges) Ich wieder in seine Nacht zu verschlingen droht und dem Bewusstsein (für das es übrigens nur Dualität – schwarz und weiß – gibt). Das Kind aber ist aufgrund seiner Zwischenstellung ein „Drittes“, noch dazu entstanden aus dem Unbewussten, und damit für das Bewusstsein dann ganz und gar irrational und bedrohlich.

Das Kind hält dabei wacker sein Banner hoch, denn seine Aufgabe ist die des Kulturbringers, für das das lodernde „Feuer“ des roten Banners (und der roten Feder) ein archaisches Symbol ist. Das Bewusstsein muss sich weiter entwickeln und wir sollten dabei in gewisser Weise wieder wie die Kinder werden.

Ganz schon abgefahren, oder?

Möglicherweise ist diese tiefenpsychologische Sicht arg weit hergeholt. Kein Beweis, aber ein gewisser Hinweis auf das archetypische Geschehen im Hintergrund mag allerdings sein, dass die Szenerie der Karte bei spontaner Betrachtung auf uns ganz überraschend „normal“ wirkt: Immerhin sitzt da ein Kleinstkind nackt mit einem riesigen Banner auf einem Pferd vor einer ins gigantische vergrößerten Sonne. Ja aber hallo, geht’s denn noch? Wie würden Sie reagieren, wenn Sie so etwas in Ihrem Garten vor dem Sonnenblumen-Beet sehen würden? Ich zumindest würde vermutlich panisch Rettungsdienst, Feuerwehr, Polizei und Jugendamt verständigen und zusehen, dass dem armen Kind nichts passiert.

Stattdessen wirkt die Karte sehr fröhlich und optimistisch auf uns. Also ist es Pamela Colman Smith mal wieder gelungen, tiefere Schichten in uns ohne Umweg über unseren unzuverlässigen Verstand anzusprechen. Und wir scheinen spontan zu verstehen, dass das alles seine Richtigkeit hat. Was für eine bemerkenswerte Künstlerin! An ihrem Tarot hat sie leider nur lächerlich wenig verdient, und am Ende ist sie verschuldet und arm gestorben. Dabei hat sie DEN Tarot geschaffen, den nun wirklich JEDER kennt und der zudem Vorbild für zahllose mehr oder (fast immer) weniger inspirierte Klone war.

Aber zurück zu unserer Karte. Was sehen wir auf der „Bühne“ dieser Karte?

Ein blauer, wolkenloser Himmel mit einer übergroßen Sonne, darunter eine graue Mauer hinter der einige Sonnenblumen blühen, der Boden ist nicht zu sehen. Im Vergleich zu vielen anderen Karten wirkt die Szenerie relativ „flach“ und wenig räumlich gestaltet. Die Sonne trägt ein Gesicht mit neutraler Mimik und sendet 11 gerade sowie 10 gewellte Strahlen aus. Und dann gibt es noch einen „verunglückten“ halben gewellten Strahl, der aber offensichtlich nicht mehr komplett rechts neben die „XIX“ gepasst hat. Katz und Goodwin nennen ihn die „OSL“ – die „Oh Sh** Line“ [Marcus Katz, Tali Goodwin: Secrets of the Waite-Smith Tarot, Llewellyn, 2015].

Die 21 (oder doch 22?) Sonnenstrahlen erinnern uns an die Anzahl der großen Arkanen: Mit dem Narren (Null) sind es 22, ohne ihn 21. So ist das neunzehnte Arkanum so etwas wie die vorweg genommene Vollendung: Nach mir kommt nichts Entscheidendes mehr, ich enthalte bereits die Quintessenz der großen Arkanen. (Tatsächlich tun sich insbesondere die Anhänger der Theorie der „Heldenreise“ in den großen Arkanen regelmäßig schwer, für die beiden noch folgenden Karten einen auch nur halbwegs glaubhaften „Plot“ zu bestimmen – nach der Sonne passiert eigentlich nichts wirklich Neues mehr.)

Vor der Mauer befindet sich ein helles Pferd, auf dem ohne Sattel ein nacktes Kind sitzt – mit ausgebreiteten Armen und mit einem langen roten Banner in seiner linken Hand. Das Kind trägt eine Rote Feder auf dem Kopf, sowie einen Blumenkranz mit 6 „Mini-Sonnenblumen“ im blonden Haar. Ob das Kind ein Mädchen oder ein Junge ist, können wir nicht erkennen. Auch das passt wieder zum eher hermaphroditischen Charakter des oben besprochenen Kind-Archetypus.

Die Karte gibt zunächst eine Menge Rätsel auf, denn so weit weg von früheren Tarots (wie dem Tarot de Marseille, aber auch noch dem Tarot von Oswald Wirth) haben sich Smith und Waite eigentlich nur noch bei den Liebenden gewagt. Die Sonnenblumen sind dabei noch ein recht nahe liegendes Symbol für die Sonne, aber warum wurden die ursprünglich zwei Kinder durch ein einzelnes ersetzt? Und was soll das Pferd? Das rote Banner? Die rote Feder?

Die rote Feder.

Eine rote Feder finden wir in den großen Arkanen noch beim Tod (die in den meisten Tarotbüchern auch gleich als Partnerkarte der Sonne genannt wird), aber auch beim Narren (was, wie wir etwas später sehen werden, noch eine weit interessantere Parallele ist). Bei den kleinen Arkanen finden wir überhaupt keine roten Federn, dafür aber bei einigen Hofkarten: Der Ritter der Schwerter, der Bube der Stäbe und der Ritter der Stäbe tragen ebenfalls rote Federn als Kopfschmuck.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Was mag die Bedeutung dieser Federn sein? Es fällt zunächst auf, dass sämtliche Federn im Tarot von Smith und Waite rot sind – wie auch das Banner, welches das Kind auf der Karte „Die Sonne“ trägt. Damit sehen die Federn, die sich ja auch leicht im Wind bewegen können, alle ein wenig wie Flammen aus und könnten auf das Element Feuer weisen. Daneben sind die Federn aber auch aufgrund ihrer „Feder“-Leichtigkeit ein Symbol des Elements Luft. Die alten Ägypter ließen nach ihrem Tod ihre Herzen von der Göttin Maat gegen eine Feder aufwiegen – nur wenn das Herz gerecht und wahr war, wog es weniger als die Feder und der Verstorbene konnte ins friedvolle Jenseits eintreten. Maat selbst trug übrigens eine Straußenfeder auf dem Kopf.

Sehen wir uns die Form der Feder an: aufrecht bei der Sonne, schlaff herab hängend beim Tod und waagrecht – also sozusagen in ausgewogener, aber beschwingter Mittelposition – beim Narren. Ein ähnliches „Muster“ können wir bei den drei Hofkarten mit roter Feder erkennen.

Zuviel Aufmerksamkeit für so ein kleines Detail? Vielleicht. Andererseits ist die überdimensionierte Doppelung der Feder durch das rote Banner in der Hand des Kindes schon ein mehr als deutliches Zeichen (eher ein winkender Zaunpfahl), dass es sich um eines der wichtigeren Symbole auf dieser Karte handelt.

Mit dem Tod verbindet die Sonne natürlich noch das Pferd und das Tragen einer Flagge, bzw. eines Banners. Keine dieser „Requisiten“ existiert übrigens im Tarot de Marseille, weder beim Tod noch bei der Sonne. Aber auch mit dem Narren gibt es noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die ausgebreitete Haltung der Hände von Kind und Narr ist sehr ähnlich. Der Narr hat zudem mit seinem Hund ebenfalls ein hilfreiches Tier an seiner Seite. Es scheint fast, als wäre er das älter gewordene Kind aus der „Sonne“, das nun auf eigenen Füßen stehen kann und dessen tierischer Begleiter deshalb etwas kleiner sein darf.

Hinter Mauern.

Interessanterweise findet man im gesamten Tarot von Smith und Waite keine einzige weitere Mauer wie bei der Sonne. Und das ist erstaunlich, denn als erfahrene Theaterfrau war Pamela Colman Smith daran gewöhnt, ihre Requisiten beizeiten in anderen Szenen zu recyceln. Zahllose so entstandene Parallelen zwischen den Karten belegen das. Es scheint also, dass die Mauer ganz substanziell für die Karte „Die Sonne“ ist.

Andererseits, Requisiten werden auch im Theater oft übermalt – in diesem Fall müssen wir vielleicht nur mit etwas mehr Phantasie suchen? Bei den großen Arkanen fallen mir die Hohepriesterin und Gerechtigkeit ins Auge: An Stelle einer Mauer finden wir bei ihnen Vorhänge. Bei den kleinen Arkanen ist es die Hecke beim As der Münzen, heckenartige Weinstöcke bei der 9 der Münzen und schließlich das den Rest der Welt abschottende bodenlange Tischtuch bei der 9 der Kelche.

Ganz banal kann eine Mauer bedeuten: Das Kind auf dem Pferd ist eingesperrt. Armes Kind. Vielleicht hat es eine symbolische oder reale Grenze überschritten? Oder es befindet sich in einem vor der Außenwelt geschützten Raum?

Möglicherweise ist es aber auch ausgesperrt (oder getrennt) von all dem, was hinter der Mauer liegt. Und da könnte eine ganze Menge liegen. Wir werden das nachher noch näher betrachten.

Gerade und krumme Sonnenstrahlen.

Die Sonne sendet 11 gerade Strahlen aus. Und 10 „krumme“ oder gewellte. Nein, Moment, da ist noch dieser halbe Strahl, der nicht mehr ganz neben die römische XIX gepasst hat (Sie erinnern sich, die „Oh sh** Line“). Wir können also annehmen, dass ursprünglich 11 gerade und 11 gewellte Strahlen geplant waren, eine perfekte Balance, vielleicht aus „männlichen“ und „weiblichen“ Anteilen wie manche Tarot-Bücher wissen wollen oder aus ganz anderen wohl balancierten Gegensätzen (Bewusstem und Unbewusstem zum Beispiel…). Aber wir finden wieder eine Balance vor und die sehr wahrscheinlich unabsichtliche Störung der Balance durch den unvollendeten 11. gewellten Sonnenstrahl zeigt uns, dass diese Balance tatsächlich sehr leicht verletzbar ist. Nicht nur für das Kind, das ohne Sattel auf dem Pferd balancieren muss, sondern wohl auch für Pamela Colman Smith, die ihre Sonnenstrahlen ausbalancieren wollte.

Die handwerkliche Schöpfung der Karte spiegelt sozusagen ihre inhaltliche Ebene.

Einzug nach Jerusalem.

Für die Katholiken Waite und Smith war die Symbolik des Palmsonntags – des Einzugs von Jesus nach Jerusalem auf dem Rücken eines Esels sicher ein vertrautes Bild. Mit dem Palmsonntag beginnt die Passionsgeschichte, die eine Woche später zur Kreuzigung auf Golgatha führen wird. In der katholischen Kirche ist rot die liturgische Farbe des Palmsonntags – als Farbe des Blutes, des Feuers und des heiligen Geistes. Auch der traditionelle Hymnus zum Palmsonntag wirft ein höchst treffendes Licht auf das Bild:

„Des Königs Fahne schwebt empor,
Es glänzt des Kreuzes Bild hervor,
An dem den Tod das Leben starb,
Und Leben durch den Tod erwarb.“
(Hymnus Vexilla Regis)

Nicht nur die rätselhafte Verwendung einer (roten!) Fahne in der Hand des Kindes findet hier eine Erklärung, auch die ausgebreiteten Arme des Kindes auf dem Pferd erhalten damit eine weitere Bedeutungsebene: Neben der entwaffnenden Offenheit der Geste auf rein körpersprachlicher Ebene erahnen wir aus dem Zusammenhang der Gesamtsymbolik bereits einen Vorboten der Kreuzigung aus der christlichen Passionsgeschichte. Und der Blumenkranz auf dem Kopf ergibt bei näherer Betrachtung einen recht passablen Heiligenschein.  Lediglich die Jünger, die den Weg nach Jerusalem gesäumt hatten, sind hier durch bescheidene Sonnenblumen ersetzt. Dafür weisen ihre Blüten nicht wie üblich zur Sonne am Himmel (die sich ja hinter ihnen befindet), sondern sind dem Kind auf dem Pferd zugewandt, das somit – ganz im Sinne des Kind-Archetypus – die Position der Sonne selbst übernommen hat.

Den Archetypus des die Welt erlösenden Kindes finden wir im Christentum ebenso wie in anderen Weltreligionen, wenn auch in der Karte „Die Sonne“ die katholische Symbolik sehr weit transformiert wurde.

Das im Hymnus genannte Motiv der Auferstehung vom Tod finden wir folgerichtig bereits in der nächsten Karte „Gericht“ ganz explizit ausgestaltet.

Noch einmal der Kind-Archetypus: Kleiner als klein, größer als groß.

Ein Kind ist zunächst einmal klein und schwach, in archetypischer Form sogar noch viel weniger als das: Unter wundersamen Umständen  auf die Welt gekommen ist es hilflos ausgesetzt in eine es gefährdende Welt (man denke dabei im Christentum z.B. an Herodes).

In fast allen Mythen, die den Kindarchetypus als Ursprung haben, finden wir die wundersame Geburt, oft auch in Form einer jungfräulichen Geburt. Warum? Es geht ja gar nicht um irgend ein reales biologisches Kind, sondern um eine „psychische“ Geburt: Das Selbst entsteht, und eines seiner auffälligsten Merkmale ist die schmerzhaften Trennung von der Welt. Jetzt ergibt auch die Mauer endlich Sinn: Die Mauer trennt das Selbst vom Universum und ist somit der entscheidende Faktor für die weitere Entwicklung. Wären wir eins mit dem Universum (was wir auf einer metaphysischen Ebene definitiv sind, aber eben nicht auf der psychologischen!), dann würden wir uns kaum zu weiterem Bewusstsein entwickeln.

Die spätere Entwicklung des Kindes zum Helden oder Erlöser ist ebenfalls ein psychischer Vorgang, nämlich die Geschichte dessen, was C. G. Jung Individuation genannt hat, unsere Entwicklung zu dem, was tatsächlich (und noch unbewusst) in uns ist und was uns nicht von außen „nahe gelegt“ wird. Ein Prozess zunehmender Bewusstwerdung.

So ist auch das Licht der Sonne ein Symbol für das Bewusstsein (und die Dunkelheit immer eines für das Unbewusste), die Heldentat des Kindes wird nun darin bestehen, Licht zu bringen und zuvor unbewusste Inhalte in unsere Psyche zu integrieren. Die Kreis-Scheibe der Sonne repräsentiert dabei die Ganzheit, die im Zuge der Individuation angestrebt wird.

Das Pferd, auf dessen Rücken das Kind reitet ist als Tier traditionell ein Symbol des Unbewussten. Unser Kind bekämpft nicht das Unbewusste, sondern hat es sich zum Verbündeten gemacht und wird von ihm unterstützt. Es muss allerdings die Balance halten, einen festen Sattel gibt es nicht. Es wird entsprechend behutsam handeln müssen, um das Pferd nicht zu überfordern. Oder weniger sinnbildlich: Unbewusste Inhalte werden nicht ohne Widerstände (uns auch nicht ohne Gefahren für uns) bewusst werden, wir müssen dabei sehr achtsam vorgehen, um nicht die Balance zu verlieren.

Nebenbemerkung: Freilich wissen wir heute, dass das Bewusstsein von höheren Tieren (wie eben vom Pferd, aber auch von Hunden, Delphinen, Walen usw.) unserem eigenen menschlichen Bewusstsein sehr viel ähnlicher ist, als unser traditionelles Unwissen über unsere Mitgeschöpfe das jemals einräumen wollte. Unterschiede im Bewusstsein von Mensch und Tieren bestehen zweifellos, sie sind aber eher gradueller Natur, die Grenzen sind durchaus unscharf. Das sind aber Erkenntnisse, die Waite und Smith so nicht zur Verfügung standen und so repräsentiert das Tier eben unser Unbewusstes.

Jung spricht beim Kindarchetypus auch von einer „werdenden Ganzheit„, gespeist aus dem Bewusstsein einerseits und dem Unbewussten andererseits. Das ist etwas, das sowohl dem Bewusstsein als auch dem Unbewussten Probleme bereiten wird, denn das Bewusstsein kann sich so eine Vereinigung nicht recht vorstellen und das Unbewusste will es gar nicht (es möchte lieber unbewusst bleiben). Damit dieser Wachstumsprozess gelingen kann, braucht das Kind – mit dem letztlich unsere Selbstverwirklichung gemeint ist – quasi übernatürliche Kräfte: Es kann Wunder vollbringen, es ist unverletzlich bei aller Bedrohtheit, die sich ihm entgegenstellt. Es ist damit zugleich kleiner als klein und größer als groß. [vgl. auch C. G. Jung: Zur Psychologie des Kindarchetypus, 1940 in Edition C. G. Jung Bd. 9/I]

Sonnenkult

In vielen Tarotbüchern findet man Hinweise auf die Bedeutung der Sonne in den antiken Religionen der alten Ägypter, der Sumerer, der Babylonier und der alten Griechen oder im altisländischen Pantheon (bei dem schließlich die Sonne während des Weltuntergangs „Ragnarök“ durch den Wolf Skalli verschlungen wird).

Für die ersten mit Ackerbau beschäftigten Hochkulturen gab es kaum etwas Bedeutenderes als die Sonne, an deren Tages- und Jahreslauf die Tages- und die Jahreszeit abgelesen werden konnte, nein, diese Zeiten wurden durch die Bewegungen der Sonne am Himmel überhaupt erst geschaffen. Keine Ernte ohne Sonne. Keine Zeiten des Hochwassers am Nil ohne Sonne. Kein neuer Tag, wenn die Sonne nicht frühmorgens beschloss, eine weitere Runde am Firmament zu ziehen. Die Sonne war nicht nur irgend ein abstraktes Sinnbild für das Leben, sondern in den alten Regionen ein mächtigster Gott, der nichts weniger als das Leben der Menschen vollständig in der Hand hatte.

Entsprechend hoch dürfen wir auch heute noch die Bedeutung dieser Karte einschätzen. Die Kräfte, die hier in Erscheinung treten, gehören zu den mächtigsten in unserem bekannten Universum. Und damit auch im gar nicht so kleinen Universum unserer Psyche.

Parallelwelten.

Nach all der mystischen und metaphysischen Symbolik möchte ich zum Abschluss noch einen ganz konkreten Blick auf ein Bilddetail werfen.

Anhand der Feder haben wir ja bereits eine Handvoll Karten mit einer gewissen Verwandtschaftsbeziehung kennen gelernt. Neben der roten Feder fällt die markante Geste der weit ausgebreiteten Arme (mit ihrer verborgenen Kreuzsymbolik) ins Auge. Bei der Sonne, beim Narren und bei den Liebenden.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Wirklich ausgebreitete Arme finden wir nur in diesen 3 Bildern. Keine einzige der anderen großen und kleinen Arkanen oder Hofkarten zeigt eine Person mit ausgebreiteten Armen. Und tatsächlich offenbaren die 3 Karten auch die Quintessenz dieser Geste. Blättern Sie ruhig mal durch Ihre Tarot-Karten: Die drei hier gezeigten Karten sind zudem auch noch die einzigen im ganzen Tarot, auf denen eine Sonne gezeigt wird. (Der Mond und die 8 der Kelche zeigen eher eine Sonnenfinsternis als die strahlende Sonne.)

Die Weltoffenheit und Unbekümmertheit des Narren finden wir ebenso bei unserem Kind der Sonnenkarte. Die feurige Feder auf dem Kopf haben wir bereits betrachtet, ebenso das hilfreiche Tier, aber auch die symbolischen Stäbe sollten wir in unsere Betrachtung einbeziehen: Bei der Sonne ist der Stab als Stange des roten Banners versteckt, beim Narren als Wanderstab, an dessen Ende ein Beutel geschnürt ist. Neben den roten „flammenden“ Federn erneut das Element Feuer also, diesmal dezent verborgen.

Eine der psychischen Eigenschaften, die dem Feuer zugeschrieben wird, ist die der Intuition. Für die Aufgaben, die mit der Sonne verbunden sid, bestimmt keine schlechte Idee.

Gleichzeitig ist es eine segnende, eine umarmende Haltung, die wir auch beim Engel der Karte „Die Liebenden“ wiederfinden. Ist es nicht auch eine Geste der Vergebung, gerade beim Sündenfall im Paradies, der so zentral für die Liebenden ist? Und zusammen mit der oben besprochenen Palmsonntags-Symbolik scheint es wie eine Erneuerung des Versprechens zu sein: Euch wird vergeben werden. Die urchristliche Botschaft der Nächstenliebe schimmert hier durch. Und tatsächlich wollen manche (auch z.B. Katz & Goodwin [Secrets of the Waite-Smith Tarot“, Llewellyn, 2015]) auf eben dieser Karte ein klitzekleines „Love“ unter der Signatur von Pamela Colman-Smith erkennen:

Die Sonne: „Love“. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

And now for something completely different: Haben Sie die zu Beginn erwähnte Schnecke schon gefunden? Sie befindet sich auf der 9 der Pentakel…

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