Der Umgang mit dem Zufall ist sozusagen eines der konstituierenden Merkmale des Tarot. Wir ziehen eine oder mehrere Karten verdeckt aus einem gut gemischten Stapel von 78 verschiedenen Karten. Nach allem, was wir rational wissen: Zufall. Reiner Zufall. Und doch – da ist doch mehr dran?
„Es gibt keine Zufälle“ ist ein Spruch, den man in esoterischen (aber auch in psychologischen) Kreisen oft hört. Will sagen, das was uns passiert, das hat auch eine Bedeutung für uns. Nichts ist ein „läppischer Zufall“, den wir einfach abtun könnten. Nein, wenn wir genau hinsehen, dann hat alles, was uns begegnet erst einmal das Recht, von uns ernst genommen zu werden, mehr noch, es hat sehr wahrscheinlich unmittelbar mit uns selbst zu tun.
Das sind zwei ganz unterschiedliche Begriffe von Zufall, oder? Der erste – eher naturwissenschaftliche Begriff – sieht auf die Art der Entstehung eines Ereignisses. Und da haben wir zum Beispiel beim Ziehen einer einzelnen Tarot-Karte ziemlich genau die Wahrscheinlichkeit von 1:78, eine ganz bestimmte Karte zu ziehen. Mit etwas Geduld und wenn wir sorgfältig mischen, werden wir das in einem „Experiment“ auch empirisch nachvollziehen können.
Auf der anderen Seite steht aber ein ganz anderer Begriff vom Zufall: Nämlich der, was der Zufall denn psychologisch für uns bedeuten mag. Frühe Tarot-Autoren haben sich oft verzweifelt am naturwissenschaftlichen Begriff des Zufalls abgemüht, um die Wirksamkeit des Tarots zu beschreiben. Etwas wie „Magie“ wäre möglicherweise im Spiel oder C. G. Jungs Synchronizität (die dafür sorgt, dass akausale Ereignisse zusammen hängen), das uns alle verbindende Chi vielleicht auch. All das will ich nicht abstreiten, möglich ist alles Mögliche, sozusagen.
Dabei darf die Karte doch gerne „rein zufällig“ sein. Sie kann dennoch eine unmittelbare Bedeutung für mich aufweisen: Ich muss nur zulassen – und da sind wir wieder zurück beim Thema Psychologie – dass auch ein zufälliges Ereignis für mein Leben relevant sein darf. Und überhaupt: Welche Ereignisse in unserem Leben tragen denn nicht ein gutes Stück Zufall in sich, gerade wenn es um bedeutsame Wendepunkte in der Biografie geht!?
Erinnern Sie sich noch, wie Sie Ihre/n Lebenspartner/in kennen gelernt haben? Sofern Sie dazu nicht die Unterstützung einer professionellen Agentur in Anspruch genommen haben, war mit Sicherheit ein guter Anteil Zufall mit im Spiel. Und die Auswirkungen auf Ihr Leben? Ziemlich umfangreich, stimmt’s? Oder nehmen Sie schwere Schicksalsschläge: Todesfälle im engeren Familienkreis, Krankheit, Unfälle – überall werden wir eine ganze Menge an Zufälligem entdecken. Und wer würde leugnen, dass solche Ereignisse einen Einfluss auf uns haben, uns prägen und verändern?
Gehen wir einen kleinen Schritt weiter. Der Zufall ist überall, hat Einfluss auf unser Leben, auf das was aus uns geworden ist. Und es gab immer so etwas wie eine Interaktion zwischen uns selbst und dem, was uns das zufällige Schicksal präsentiert hat. Wir haben darauf reagiert (es zumindest versucht), und zwar auf unsere ganz persönliche Art und Weise. Und nun haben wir mit dem Tarot einen Mikrokosmos an Zufällen, auf die wir ebenfalls reagieren: Indem wir spontane Assoziationen entwickeln, Ideen haben, Gefühle, uns in den Bildern spiegeln. Auch das tun wir auf unsere ganz individuelle, einmalige Art und Weise.
Alles was dabei zu tun ist, ist zuzulassen, dass uns diese zufällig gezogenen Karten etwas zu sagen haben. Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Zufall, der in unser Leben tritt. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Zufällen des Lebens haben wir beim Tarot doch ganz aktiv danach gefragt, indem wir eine oder mehrere Karten gezogen haben. Wir haben uns bewusst auf ein „blind date“ mit dem Zufall eingelassen!
Und das Ergebnis wird aus eben diesen Gründen sehr viel mit uns selbst zu tun haben:
- Wir haben aktiv eine Frage „in den Raum“ gestellt. Das ist unsere ganz persönliche Frage!
- Wir reagieren ganz individuell auf die Bilder und Bedeutungsebenen der Tarot-Karten.
Wäre es nicht trotzdem schöner, wenn so eine Art „Magie“ hinter dem Ziehen der Karten steckt? Na klar! Vielleicht steckt da auch noch zusätzlich eine Magie dahinter und viele Menschen, die sich regelmäßig Tarot-Karten legen berichten von ganz eigenartigen, „über-zufälligen“ Ereignissen wie Karten, die immer wieder auftauchen. Aber selbst wenn es solche „magischen“ Ereignisse nicht gibt, wird das Legen von Tarot-Karten für uns funktionieren: Letztlich ist die Unterscheidung zwischen „Zufall“ und „Schicksal“ nur eine die im Kopf und nicht in der Realität stattfindet.
Das war jetzt ein arg trockener Beitrag, oder?
Im Prinzip geht es mir darum zu zeigen, dass Zufälle ganz allgegenwärtig unser Leben bestimmen und wir mit dem Tarot den Zufall in sehr kontrollierter Form nutzen können, um bislang vielleicht unbeackerte Felder unserer Psyche zu betreten. Wir behalten dabei alle Freiheiten, Dinge anzunehmen oder abzulehnen, nehmen aber ganz bewusst einen Überraschungseffekt in Kauf: Gehört das was ich da sehe tatsächlich zu mir? Hatte ich vielleicht gar nicht so erwartet! Wir müssen also entscheiden, was davon unser Inneres spiegelt und was vielleicht eher der Außenwelt entspricht und womit wir vielleicht gar nichts anfangen können.
Noch nicht ganz überzeugt? Ich bin auch noch nicht ganz fertig…
Der Zufall beim Ziehen einer Tarotkarte unterscheidet sich also nicht prinzipiell von vielen anderen Zufällen, selbst wenn diese unser Leben gravierend beeinflussen. Wichtiger als die Frage, ob ein Ereignis zufällig entstanden ist, ist die Frage, ob wir es als für uns bedeutsam akzeptieren und entsprechend darauf reagieren können.
Trotzdem könnten wir doch an Stelle einer zufälligen Auswahl uns ganz bewusst eine Karte aussuchen, um mit ihr zu arbeiten. Das wäre doch viel genauer auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten!? Es gibt doch bestimmt für mich als Person in einer bestimmten Fragestellung „passendere“ und „weniger passende“ Karten. Warum sollte ich die Auswahl dann dem Zufall überlassen?
Der Grund liegt in einem psychologischen Mechanismus, der besonders in der Tiefenpsychologie eine entscheidende Rolle spielt: Widerstand. Widerstand ist unser Schutzmechanismus gegen verdränget und uns unangenehme Inhalte. Wenn es also bei einer Fragestellung einen „blinden Fleck“ (verdrängte Themen) gibt, dann werden wir unbewusst dafür sorgen, dass diese verdrängten Themen ganz bestimmt nicht zum Vorschein kommen. Bei einer von uns selbst getroffenen Auswahl einer Karte werden wir womöglich gerade nicht diejenige wählen, die solche verdrängten Themen offen legt (die aber gerade dadurch wahrscheinlich für die Lösung der Frage wichtig ist), sondern eine möglichst „harmlose“ Karte, die uns hoffentlich weiter unsere gewohnten Bahnen gehen lässt.
Auch bei einer zufälligen Wahl können wir natürlich an eine „harmlose“ Karte geraten, wir haben aber wenigstens die Chance, dass Dinge auf den Tisch kommen die wir sonst vermieden hätten.
Und noch einen weiteren Grund gibt es für eine zufällige Auswahl: Wir neigen dazu, einem „Zufall“ (der vielleicht sogar „Schicksal“ ist) mehr Kompetenz bei ungelösten Fragestellungen zuzuschreiben als uns selbst. Schließlich haben wir es bis jetzt ja auch nicht verstanden, die Fragestellung zu lösen – sonst müssten wir nicht als ultima ratio die Tarotkarten befragen. Wenn wir – wie im ersten Beitrag erwähnt – das Vertrauen aufbringen, dass dieser (vermeintliche oder echte) Zufallsprozess des Karten-Ziehens uns tatsächlich etwas mitzuteilen hat, dann werden wir auch den größten Gewinn daraus ziehen.
Zuletzt: Es ist oft sehr hilfreich, ganz einfach und banal „überrascht“ zu werden: Eine völlig unerwartete (weil „zufällige“) Karte kann uns sehr heilsam aus dem Konzept bringen, aus der ersten Verwirrung können ganz neue Interpretationen unserer Situation und von uns Selbst entstehen.
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