Das Thema „Heldenreise“ zu kritisieren ist etwas heikel. Es gibt immerhin eine ganze Reihe von Büchern namhafter Tarot-Experten, die sich eben jener Heldenreise innerhalb der großen Arkanen angenommen haben. Hajo Banzhaf ist darunter, Elisabeth Haich oder Karen Hamaker-Zondag. Auch bei Rachel Pollack findet man einiges Interessantes dazu. Und höchst wahrscheinlich ist die Heldenreise (oder die Reise der eigenen spirituellen Entwicklung) tatsächlich eine der Dimensionen, unter denen sich der Tarot betrachten lässt.
Der Held der Reise – der Narr – bewegt sich durch die 21 anderen großen Arkanen, bis er am Ende in der „Welt“ aufgeht. Dazwischen lauern Hängen, Tod und Teufel, aber auch hilfreiche Wegweiser wie der Eremit oder die Mäßigung. Diese Helfer kommen nicht zwangsweise von außen, sondern können durchaus auch für den Erwerb innerer Tugenden sein: Nimmt man zu Eremit und Mäßigung noch die Gerechtigkeit und die Kraft dazu, hat man die vier klassischen Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit (Kraft) und Weisheit (Eremit).
Trotzdem glaube ich, dass diese Perspektive – wenigstens aus psychologischer Sicht – nicht besonders lohnend ist und im Gegenteil sogar so manche Probleme aufwirft.
Ganz trivial ist zunächst einmal das Problem der Makro- und der Mikro-Perspektive. Dieselben 22 Karten der großen Arkana, die für prägnante Stationen einer lebenslangen „Heldenreise“ (einer spirituellen Entwicklung) stehen, nutze ich auch, um eine vergleichsweise banale Tageskarte zu ziehen. Eigentlich sollte ich mich Jahre auf einer der 22 Stationen des Lebenswegs aufhalten, habe aber munter gestern „Das Gericht“ gezogen, heute bin ich wieder beim „Teufel“ und morgen ziehe ich „Die Welt“.
Das erzeugt dann erst einmal ein vages Gefühl, dass sich die Makro-Perspektive des Lebenswegs und die Mikro-Perspektive der Tageskarte zumindest nicht auf demselben Niveau befinden und daher auch besser nicht verwechselt werden sollten. Das gestern gezogene „Gericht“ kann ja schlichtweg nicht in vollem Umfang eine Lebensstation meinen. Diese Lebensstation würde sich nie auf einen einzigen läppischen Tag beschränken – nicht zuletzt aufgrund ihrer Bedeutung und der damit verbundenen Schwierigkeiten, sie zu meistern und ihrer Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. So etwas braucht doch ein gerütteltes Maß an „Anlauf“ und wird danach meist noch eine ganze Weile „nachklappern“.
Das nächste Problem bezieht sich auf die Reihenfolge der Ereignisse, beziehungsweise der Lebensphasen. Sollte ein Entwicklungsprozess im Makro-Bereich (der sich also über mindestens Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zieht) nicht halbwegs linear sein? Gewiss gibt es immer wieder Rückschritte, aber nur extrem selten Sprünge ganz zurück an den Anfang und dann wieder zum Ende (vielleicht sogar zehn Stufen dabei überspringend!), sondern ich erobere mir meine nächste Stufe, integriere sie dabei idealerweise in mein Selbst, falle vielleicht nochmal auf die aktuelle Stufe zurück, aber im Großen und Ganzen bewege ich mich bei einer „Heldenreise“ nicht im Zickzack-Kurs. Wir reden hier nicht über komplizierte Beziehungskisten oder unkonventionelle berufliche Wege, sondern über grundsätzliche menschliche Reifungsprozesse. Wenn ich es gemeistert habe, „Tod“ und „Teufel“ hinter mir zu lassen, dann werde ich nicht als Nächstes nochmal als „Gehängter“ alles anders betrachten müssen, denn diesen Schritt sollte ich dann schon längst integriert haben.
Mir geht es nicht darum, die Vermutung „Tarot ist ein Spiegel der Heldenreise / des Lebenswegs“ grundsätzlich in Frage zu stellen. Es scheint mir nur bei einer alltäglichen Benutzung des Tarots keine besonders nahe liegende Perspektive zur Deutung der Karten zu sein. Wir werden später noch sehen, dass unsere bunten Karten noch eine ganze Menge weiterer Perspektiven vertragen, die alle ihre Berechtigung haben, aber: Die Frage ist, wofür wähle ich was?
Um nun doch noch einen Schritt weiter zu gehen: So gaaaanz schlüssig ist das mit der Heldenreise per se – auch unabhängig vom Brückenschlag zur alltäglichen Tarot-Nutzung – leider ebenfalls nicht, wenn wir etwas näher hinsehen.
Fangen wir beim Narren an. In moderner Deutung ist das der „Held“, der – naiv wie Parzival – auf die Reise geht, um die 21 Stufen der menschlichen Entwicklung zu meistern. Deshalb erhält er auch keine Nummer sondern die Null, bzw. wird in alten Decks tatsächlich ohne eigene Nummer dargestellt. Bei Waite-Smith passt das auch sehr gut: Der Narr ist jung und hübsch, eigentlich ganz gut gekleidet (wenn auch etwas zerfleddert durch die Reise), er scheint die Abgründe um ihn herum nicht zu sehen und wird durch sein Hündchen vor gröberen Fehltritten beschützt. Ganz anders bei den älteren Tarots von Oswald Wirth, beim Tarot de Marseille oder im Visconti-Sforza Tarot: Hier ist der Narr noch ein heruntergekommener Landstreicher, er ist möglicherweise sogar geistig verwirrt. Das ihn in manchen Darstellungen begleitende Tier (Hund, Katze) beschützt ihn nicht, sondern fällt ihn an und beißt herzhaft in sein Bein. Zumindest ein paar leise Zweifel scheinen mir angebracht, ob der Narr der frühen Tarot-Decks tatsächlich als „Held“ einer Heldenreise gedacht war. Bewiesen ist mit solchen Zweifeln freilich noch nichts.
Nicht weniger problematisch ist der Magier. Zumindest bei Waite-Smith war das für mich immer die kraftvollste Karte im ganzen Stapel. Was für eine Körperhaltung! Eine Mischung aus lässig-entspannt, demonstrativ gegenüber uns als zuschauendem Publikum und gleichzeitig bis zum Rand mit Energie aufgeladen, die zwischen den beiden Polen, die durch seine Hände aufgespannt werden, fließt. Beinahe wie einen Blitzableiter hält die rechte Hand den magischen Stab und leitet die Energie „von oben“ durch den Körper und die linke Hand „nach unten“. Wie oben, so unten ist eine der Kern-Lehren der Esoterik überhaupt – und genau das demonstriert uns dieser Magier in vollendeter Weise. Vor sich auf dem Tisch liegen – ihm zu Diensten – alle vier „magischen Instrumente“ (bzw. Elemente), die die Quintessenzen zu den 56 kleinen Arkanen darstellen. Worauf will ich hinaus? Na ja, dieser unglaublich kraftvolle und mit allen magischen Mächten ausgestattete Magier ist erst die allererste, kleinste und mickrigste Stufe von allen. An dieser Stelle möchte ich also weitere ganz leichte Zweifel an der Story von der Heldenreise anmelden. Und nebenbei: Der Magier hat eine erhebliche Umdeutung durch Waite-Smith erfahren, wenn wir uns den Jahrmarktsgaukler auf dem Marseille- oder Visconti-Sforza Tarot betrachten.
Die Karten 1 bis 5 sind überhaupt komisch.
Oft wird ja im Sinne der Heldenreise argumentiert, der Magier und die Hohepriesterin seien die „himmlischen“/spirituellen Eltern, die Herrscherin und der Herrscher dagegen die „irdischen“ Eltern des Helden [z.B. Banzhaf, „Tarot und der Lebensweg des Menschen“, Kailash, 2005]. Die Interpretation ist zweifellos möglich, wirkt aber trotzdem irgendwie „bemüht“. Das Problem an dieser Interpretation ist: wir verschenken hier vier Karten für zwei ominöse Elternpaare, die aber abgesehen von ihrer Elternschaft keinerlei, wirklich keinerlei weiteren Beitrag zur Geschichte der Heldenreise leisten. Machen die irgendwas besonderes mit dem Helden, außer als sie selbst da zu sein? Wie geht es dem Helden vor / nach diesen vier Karten? Warum kommen erst die spirituellen und dann die weltlichen Eltern? (Bei einer spirituellen Entwicklungsreise würde ich das eher anders herum erwarten.)
Und wenn es gar nicht die Eltern sind? Dann haben doch ihre Themen – nämlich die Beherrschung der magischen Kräfte, spirituelles Geheimnis / Mystik, schöpferisches Erzeugen von Neuem, Beherrschung von Strukturen (und jeweils noch einiges mehr) – nicht besonders viel auf den „Startplätzen“ der Heldenreise verloren. Ganz im Gegenteil, man würde sie sogar eher gegen Ende der Reise erwarten! Und dann ist da noch Nummer 5! Passt der Hierophant denn nicht viel besser zur Hohepriesterin!? In früheren Tarots hießen sie sogar „Papst“ und „Päpstin“, zudem haben beide (bei Waite-Smith) ein Säulen-Paar im Hintergrund, was aber wieder den Magier außen vor lässt und damit das schöne Pärchen-Spiel mit „himmlischen Eltern“ / „irdischen Eltern“ in Frage stellt.
Zudem entdecken wir die Lemniskate (die liegende 8, die für die Unendlichkeit steht) nicht nur über dem Kopf des Magiers, sondern (bei Waite-Smith) ebenso bei der weiblichen Figur der Stärke. Sind das nicht viel eher zwei, die zusammen gehören? Oder gehören gar der Magier und die Gerechtigkeit als Paar zusammen? Die Gerechtigkeit zeigt nämlich – etwas verbrämt durch die Gegenstände, die sie in den Händen hält – die gleiche Hand-Symbolik „Wie oben so unten“ (einer DER Grundsätze der Esoterik) des Magiers! Wir haben also auch bei den beiden „Elternpaaren“ zu Beginn der Heldenreise ganz leise Zweifel, ob das denn alles wirklich so eindeutig ist.
Und wenn wir ehrlich sind, stellt keine der 5 Karten einen echten „frühen“ Entwicklungsschritt dar.
Blicken wir doch mal ans andere Ende des Tunnels. Dort sitzt die Welt. Ist denn nicht das Aufgehen, die Auflösung des Individuums in der Welt das Ziel der Entwicklung? Aber ein wenig komisch ist die Karte ja doch: Bereits im Tarot de Marseille tanzt hier ein nahezu nacktes Fräulein in einem ovalen Kranze auf uns zu. Soso, da tanzt was Nacktes aus etwas Ovalem heraus, was könnte das nur sein? Nein! Doch! Ooh!! Könnte hier eine Geburt gemeint sein? Passt die Geburt – falls sie denn gemeint sein sollte – denn nicht eher zum Anfang einer Heldenreise? Geht hier denn nicht die ganze Misere los mit unserer Suche nach Individuation, nach Spiritualität und nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält?
Weitere Zweifel gefällig? A. E. Waite hat bei seinem Tarot-Deck die traditionelle Reihenfolge der Karten verändert. Aus der Nummer 8 „Gerechtigkeit“ wurde die Nummer 11, und die zuvor dort befindliche „Kraft“ wurde auf die 8 degradiert. Ist das denn im Sinne der Heldenreise egal? Zwischen den beiden Positionen liegen immerhin der Eremit und das Rad des Schicksals – im Sinne einer „Story“ dürften das durchaus kritische Stationen sein, für die es keineswegs egal sein kann, was vorher und was nachher passiert.
Wenn wir noch etwas weiter in die Vergangenheit des Tarot blicken, dann gab es da noch ganz andere Anordnungen der Karten. In frühen Tarots aus Ferrara beispielsweise war die Herrscherin die zweite Karte und die Päpstin (die heutige Hohepriesterin) befand sich auf Platz 4, unmittelbar vor ihrem männlichen Pendant, dem Papst. In alten Tarots aus Bologna war nicht die Welt die letzte Karte der „Heldenreise“, sondern das Gericht.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich kann man mit den 22 großen Arkanen eine Heldenreise erzählen. Aber man wird dabei auch auf mehr als nur eine Ungereimtheit stoßen, sobald die Reihenfolge der Stationen dieser Reise eine Rolle spielt. Dennoch möchte ich gerade die Heldenreise zu einem späteren Zeitpunkt – mit etwas mehr Rüstzeug im geschulterten Beutel des Narren – erneut aufgreifen.
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