8. Schwierigkeiten mit den Herrschaften vom Hofe.

Bislang konnten wir uns ganz passabel auf „intuitive“ Weise mit den Tarotkarten auseinandersetzen. Dank Pamela Colman Smith haben wir ein Kartendeck, das sehr „szenisch“ aufgebaut ist und dadurch auch sehr offen für unsere Interpretationen ist. Das gilt sogar für die kleinen Arkanen, die in älteren Tarots (Wirth, diverse Varianten des Tarot de Marseille, usw.) noch ohne szenische Darstellungen auskommen mussten – da gab es nur die Farbsymbole in einer schönen symmetrischen Anordnung entsprechend ihrer Anzahl.

Ein paar Karten verursachen bei dieser von mir vorgestellten „naiven“ psychologischen Zugangsweise dann aber doch Schwierigkeiten. Auch im Waite-Smith-Tarot. Die Rede ist von den 16 sogenannten „Hofkarten“, also üblicherweise Page (Bube), Ritter, Königin und König in ihren vier „Farben“ Stäbe, Kelche, Schwerter und Münzen. Irgendwie sind sich da viele Karten geradezu extrem ähnlich:

Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Die Ritter sitzen alle auf ihren Pferden, König und Königin thronen (und unterscheiden sich noch nicht einmal gegenseitig besonders deutlich), die Pagen stehen alle herum und so weiter. Machen die irgend etwas? Was geht in den Figuren eigentlich vor? Worum mag es bei diesen Karten gehen?

Warum ist das so, haben wir uns mit der psychologischen Herangehensweise vielleicht verrannt?

Tatsächlich scheinen viele Tarot-Bücher beim Thema „Hofkarten“ ähnlich herumzueiern wie wir jetzt. Manchmal sollen die Hofkarten auf Personen hinweisen, manchmal auf „Stimmungen“ oder Chancen, in anderen Deutungen ist dagegen von vier Stufen der Vervollkommnung der jeweiligen Farb-Charakteristik die Rede: Die „ungeformte“ Kraft beim Buben, „gerichtet“ beim Ritter, „erfahren“ bei der Königin und schließlich „etabliert“ beim König (etwa bei Katz & Goodwin: „Secrets of the Waite-Smith Tarot“, Llewellyn, 2015). Aus den Bildern selbst lässt sich all das noch nicht einmal mehr mit sehr viel gutem Willen herauslesen.

Bei der Analyse der Hofkarten haben wir zwei Themen:

  1. Die Zuordnung zu den vier „Farben“ Stäbe, Kelche, Schwerter und Münzen. Das ist noch vergleichsweise einfach und wird an späterer Stelle noch einmal weiter vertieft. Mit den Farben kann man sich den Hofkarten aber zumindest schon einmal nähern: Gehen wir davon aus, dass es 4 „Königreiche“ mit je einem König, Königin, Ritter und Pagen gibt. Diese Königreiche entsprechen bestimmten Lebenswirklichkeiten bzw. Energien.
  2. Die Unterschiede zwischen den „Rängen“ König, Königin, Ritter und Page. Das ist der weitaus kniffligere Teil.

Beginnen wir also mit den 4 „Farben“.

Den vier Farben werden (in der Tarot-Literatur übrigens erstaunlich einhellig!) bestimmte Energien, bzw. dahinter stehende alchemistische Elemente zugewiesen:

  • Die Stäbe stehen für Aktionen, Tatkraft, Veränderung, Energie aber auch Intuition – entsprechend dem alchemistischen Element Feuer. Als „Eselsbrücke“ mag man sich hier vorstellen, dass die Stäbe als brennbares Material als einzige das Element Feuer zu tragen vermögen.
  • Die Kelche stehen für Emotionen, „Mitschwimmen“ und Gefühle, für Phantasie, ungerichtete Energien  – und entsprechen dem alchemistischen Element Wasser. Auch hier ist der Weg der Assoziation kurz: Die Kelche können als einzige das Element Wasser beherbergen und tragen.
  • Die Münzen stehen für – na klar – Geld, aber viel mehr noch generell für Ressourcen (gerne auch psychologisch zu verstehen!), Materielles, Werke, Erdverbundenes – sie entsprechen in alchemistischem Sinne dem Element Erde. So wie das Erz für die Münzen aus der Erde stammt oder in weiterem Sinne die Erde selbst eine ebenso runde Gestalt aufweist wie die Münzen.
  • Die Schwerter stehen für Gedanken und Rationalität, der Begriff „scharfer Verstand“ kommt nicht von ungefähr – und entsprechen dem alchemistischen Element Luft. Ein Schwert kann durch die Luft schneiden, saust im Kampf durch die Luft wie auch umgekehrt ein kalter scharfer Wind etwas „Schneidendes“ an sich hat.

Das sind also schon mal recht deutliche Unterschiede zwischen den Farben, die auch leicht und einigermaßen intuitiv hergeleitet werden können. Das ist für unseren psychologischen Ansatz günstig. Die Farben sind sozusagen die „Herrschaftsbereiche“ der jeweiligen Hofkarten. Das Königspaar wird über die ihm zugeordnete Farbe „herrschen“. Aber die Schwierigkeiten der Hofkarten liegen eher darin, König, Königin, Ritter und Pagen zu unterscheiden.

Was fällt als Erstes auf?

Wir haben Männer-Überschuss! Ein König, ein Ritter und ein Page gegenüber nur einer Königin – ist das eine faire Verteilung? Tatsächlich haben viele modernere Tarot-Decks versucht eine Art Gleichberechtigung herzustellen und haben z.B. Ritter und Page in Prinz und Prinzessin umbenannt. Im Ergebnis haben wir eine sehr populäre Deutung der 4 Karten als jeweils 1 männliche und 1 weibliche reife Personen (König und Königin) und als jeweils 1 männliche und 1 weibliche noch unreife Person (Prinz und Prinzessin).

Das ist eine sehr schöne und symmetrische Lösung des Hofkarten-Problems und wir alle haben ja bei Symmetrien gerne den Eindruck, dass sie „richtiger“ sein müssen, als asymmetrische Lösungen. Die schöne Lösung der zwei „Pärchen“ hat aber ein kleines Problem: Sie ist ziemlich ignorant. Auf das Waite-Smith-Deck angewandt heißt das nämlich einfach zu ignorieren, was auf den Karten steht. Da gibt es nämlich genau 1 Pärchen: König und Königin. „Ritter“ und „Page“ sind weit davon entfernt, sich zu einem Pärchen zu ergänzen!

Freilich lassen sich durchaus Geschlechterstereotypen z.B. auf die „männlich-aktiven“ Ritter oder die „weiblich-passiven“ Pagen projizieren. Aber richtiger wird die Interpretation damit leider auch nicht. Und tatsächlich ist das „echte“ männlich-weiblich-Paar König und Königin einander bis hin zur sitzenden Körperhaltung extrem ähnlich, wir können niemanden etwa als eindeutig „aktiven“ oder „passiven“ Teil des Paares dingfest machen. Die Unterschiede liegen jeweils nur in kleinen Details. Die Klischees der männlich/weiblich-Zuordnungen jedenfalls greifen zumindest auf der Ebene der bildlichen Darstellung nicht.

Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Auch sollten wir getrost die „Ränge“ König und Königin als einander gleichwertig betrachten – man denke nur an die Queen in England, Königin Silvia usw. die als Regentinnen und Thronerbinnen die Macht (wenn auch heute nur noch die repräsentative Macht) inne haben, genau so wie Könige als männliche Thronerben in anderen Dynastien. Im Gegensatz dazu sind Ritter und Pagen keineswegs auf gleicher „Augenhöhe“.

Also haben wir mit dem König und der Königin zwei einander sehr ähnliche Karten und mit Ritter und Pagen zwei weitere Karten, die ganz unterschiedlich zueinander und zu dem Pärchen sind. Zusätzlich scheint der Page von allen die „jugendlichste“ Variante zu sein, sowohl was das dargestellte Alter der Figuren betrifft, als auch bezüglich der mittelalterlich-höfischen Rolle „Page“, auf die Bezug genommen wird.

Transaktionsanalyse und eine innere „Familie“.

Der amerikanische Psychologie Eric Berne hat im Rahmen seiner Transaktionsanalyse die Vorstellung vertreten, dass wir im Laufe unserer Entwicklung unsere Eltern und ihre Ansprüche und Forderungen an uns, aber auch ihre Fürsorge und ihren Schutz als quasi „innere Personen“ aufbauen, die zuweilen in unseren Interaktionen mit anderen Menschen das Ruder übernehmen und uns handeln/sprechen lassen wie unsere Eltern (bzw. das, was wir von ihnen verinnerlicht haben). Berne nannte das diese innere Person das „Eltern-Ich“.

Aber nicht nur die Eltern, sondern auch wir selbst als Kind hinterlassen Spuren in uns als erwachsene Menschen. Das „innere Kind“ kann unser Handeln steuern, man denke nur an den genialen Komiker Luis de Funès, der letztlich in vielen seiner Rollen ein tobendes, jähzorniges – aber eigentlich ein „kleines Kind“ dargestellt hat. Berne hat diesen Ich-Zustand das „Kind-Ich“ genannt (das übrigens auch ganz „brav“ und angepasst, ja überangepasst sein kann).

Und schließlich gibt es noch ein „Erwachsenen-Ich“, das rational agiert, im Diskurs mit anderen auch deren Standpunkte sieht und integriert, aktiv Entscheidungen fällt und die eigentliche und nicht beeinträchtigte erwachsene Person „in uns“ ist.

Eigentlich gar kein schlechtes Modell für unsere so problematischen Hofkarten. Wir können die vier Hofkarten als unsere inneren Repräsentanten der Eltern, unseres erwachsenen rationalen Ichs und unseres inneren Kindes sehen. Und je nach Farbe des Kartenblattes haben auch diese Repräsentanten eine „Färbung“, ein dominantes Grundthema, in dem sie eine Eltern-, Erwachsenen- oder Kind-Ich-Rolle einnehmen.

Bernes Theorie – wie fast alle tiefenpsychologischen Theorien legt großes Gewicht auf die Umwelteinflüsse speziell der Kindheit, die unsere spätere „Binnenstruktur“ ganz entscheidend formt. Man mag jedoch auch hier noch ergänzen, dass es wohl einen nicht zu unterschätzenden Anteil an unserer Persönlichkeitsstruktur gibt, die nicht unbedingt erlernt, sondern uns angeboren ist. Auch hier sollten wir von Einflüssen auf unsere inneren Eltern- Erwachsenen und Kind-Ichs ausgehen, etwa im Sinne von Talenten, „Leitsternen“, Neigungen usw. die nicht erst in der Kindheit geprägt wurden, sondern schon vorher da waren.

Warum zwei „Eltern-Ichs“?

In vielen Fällen sind unsere Mütter und unsere Väter ganz unterschiedlich zu uns. Berne unterscheidet etwa zwischen zwei Aspekten des Eltern-Ichs: einem kritischen Eltern-Ich und einem fürsorglichen Eltern-Ich. Und oft ist das durchaus auf z.B. eine kritische, strenge, fordernde Mutter (oder Vater) und einen fürsorglichen, unterstützenden Vater (oder Mutter) aufgeteilt. Wie – das ist bei jedem Elternpaar ganz unterschiedlich. Und so macht es schon Sinn, wenn wir als „Eltern“ zwei verschiedene Karten zur Verfügung haben.

Ob nun der König oder die Königin der kritische oder der fürsorgliche Part sind, das sieht man ihnen freilich von außen nicht an und das ist ja auch in jeder Familie ein Wenig anders gelagert.

Manchmal sind es übrigens gerade die erzieherischen (und anderen) Konflikte zwischen den beiden unterschiedlich denkenden und agierenden Elternteilen, die den „Zündstoff“ unserer Kindheit ausmachen.

Warum nur ein „Kind-Ich“?

Ähnlich wie bei den Eltern-Ichs unterscheidet Berne zwischen einem „angepassten“ Kind und einem „freien“ Kind. Im Tarot muss uns dafür eine Karte – die des Pagen – genügen. Allerdings ist hier im Unterschied zu den Eltern tatsächlich auch immer nur eine einzige Person „Kind“ gewesen, wenn auch bisweilen angepasst, dann trotzig „gegen-angepasst“, frei oder rebellisch.

Wenn wir uns auf diese psychologische Deutung der Hofkarten einlassen, dann haben wir ein sehr differenziertes Modell unserer eigenen Bewusstseinszustände (Eltern-, Erwachsenen- und Kind-Ich) innerhalb von vier grundlegenden Themenkreisen, die durch die vier Farben gebildet werden.

Und die Geschlechter der Ritter und Pagen?

Üblicherweise geht man davon aus, dass die Pagen und Ritter als „männlich“ gezeichnet wurden. Allerdings haben sie zum größten Teil sehr feine Gesichtszüge, so dass wir sie ohne Weiteres auch als weibliche Figur ansehen können, wenn eine Frau die Fragestellerin ist. Ihr inneres Kind-Ich und Erwachsenen-Ich ist selbstverständlich weiblich. Versuchen Sie es sich einfach mal konkret anhand der Karten vorzustellen – wirklich große Hindernisse hat uns Pamela Colman-Smith dafür nicht in den Weggelegt.

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