2. Familientreffen: Welcher Tarot soll es denn sein?

Wenn man sich heute mit Tarot beschäftigen möchte, dann ist eine der ersten Hürden die Frage nach dem passenden Tarot-Deck. Es gibt derzeit etwa 1.000 verschiedene Decks, davon sind etwa 400 im Handel erhältlich.

Das ist ganz schön viel (mal wieder).

Beim Tarot gibt es immerhin so etwas wie einen Familienstammbaum mit Ahnen und Urahnen und dann noch die ganze buckelige Verwandtschaft. Die Vorläufer des Tarot waren tatsächlich Spielkarten, es gab prägende Einflüsse aus China und insbesondere auch aus dem mittelalterlichen Islam (Mammeluken). Der Tarot ist in gewisser Weise ein Resultat von einem gerüttelten Maß an „Multikulti“.

Die ältesten eigentlichen Tarot-Karten, die man auch als solche erkennen würde, stammen aus dem 15. Jahrhundert: Der Visconti-Sforza-Tarot und der Sola-Busca-Tarot. Der Visconti-Sforza-Tarot ist sehr aufwändig gestaltet, handgemalt und mit Blattgold verziert und zeigt bereits die großen Arkanen der modernen Tarot-Karten in aus heutiger Sicht einigermaßen vertrauter Darstellung, wenn auch ursprünglich ohne die heutige Nummerierung. Anders der Sola-Busca-Tarot: Hier sind die großen Arkanen aus der Geschichte des römischen Reiches entnommen und dafür aber die kleinen Arkanan durchgängig mit szenischen Illustrationen versehen. Fotografien der Karten waren 1907 im British Museum ausgestellt und dienten wahrscheinlich Pamela Colman Smith als Anregungen für einige ihrer eigenen Illustrationen im 1909 erschienenen Waite-Smith-Tarot. Dazu später mehr.

Wir springen 300 Jahre weiter in das 18. Jahrhundert. Der Tarot de Marseille. Die Darstellungen sind recht „grob“ und mit flächigen, plakativen Farben koloriert – die Karten sind per Holzschnittt-Druck erstellt. Im Gegensatz zu den kostbaren handgemalten Unikaten der Renaissance haben wir es hier also mit einer „Massenproduktion“ mehrerer verschiedener Hersteller zu tun. Wir finden kaum noch Abweichungen zu den modernen Bezeichnungen, die kleinen Arkanen sind allerdings nicht situativ bebildert.

150 Jahre später wird es  erstmals esoterisch. Oswald Wirth hat zum Ende des 19. / Beginn des 20. Jahrhunderts ein Tarot entwickelt, das zunächst nur wie ein weiterer Marseiller Tarot aussieht, aber bei ihm hantiert erstmals der Magier mit den vier magischen Werkzeuge Stab, Kelch, Münze und Schwert, der Wagen wird nicht mehr von Pferden, sondern von zwei Sphingen gezogen, usw. Die Tarot-Karten wurden also „angereichert“, eine Technik die von Waite und Smith noch sehr viel radikaler weiter entwickelt wurde und die heute Standard bei neuen Tarot-Decks ist.

Dann kam das wahrscheinlich einflussreichste Tarot-Deck von allen:

Zwei Mitglieder des „Order of the Golden Dawn“, Pamela Colman Smith als Zeichnerin und Arthur Edward Waite mit seinem weitreichenden esoterischen Wissen haben einen Tarot geschaffen, der bis heute mit großem Abstand der bedeutendste Tarot von allen wurde. Die Geschichte dieses Tarot-Decks ist mindestens eine eigene Abhandlung wert, eine sehr lesenswerte Darstellung findet man bei Katz und Goodwin: „Secrets of the Waite-Smith Tarot“.

Was ist so besonders am Waite-Smith (manchmal auch nach dem ersten Verlag „Raider“ als „Raider-Waite“ benannt)? Wie bei kaum einem anderen Tarot sind hier die Illustrationen mit Symbolen quasi „aufgeladen“, zudem gibt es über diese reichhaltige Symbolsprache ein ganzes Netzwerk an Querverweisen zwischen den Karten, sowohl bei den großen als auch den kleinen Arkanen. Pamela Colman Smith hat in überragender Weise Emotionen in die Körpersprache der Akteure auf den Karten übertragen – ein Blick genügt und wir wissen sofort, um was es hier jeweils geht.

Im Vergleich zu allen Tarots zuvor ist das Waite-Smith-Deck ein Quantensprung: Weg von „holzschnittartigen“ Figuren wie noch im Tarot de Marseille und hin zu „theatralischen“ Szenerien mit realistischer Körpersprache. Pamela Colman Smith war nicht umsonst bei der Illustration vieler Theaterprojekte involviert.

Springen wir in die Gegenwart. Ein großer Teil aller modernen Tarot-Decks sind im Grunde Variationen und Interpretationen eben dieses Waite-Smith-Tarots. Es gibt ganz direkt abgeleitete „Klone“ wie das „Universal Waite Tarot“ oder das „Radiant Waite Tarot“, bei denen lediglich die Kolorierung nach heutigem Geschmack etwas „gefälliger“ gemacht wurde, es gibt Neu-Zeichnungen der im Prinzip gleichen Szenerien, wie das „Morgan-Greer Tarot“ oder das „Hanson-Roberts Tarot“, eine Darstellung mit Gummibärchen als Darsteller, Übertragungen in ein anderes Habitat wie der beliebte „Druid Craft“ Tarot, bei dem sich alles unter, na? Druiden abspielt, daneben aber auch recht originelle Arbeiten wie den „Vice Versa Tarot“, bei dem versucht wird, die ursprünglichen Szenen des Waite-Smith Decks von einer anderen Seite aus mit bis dahin unsichtbaren Details zu zeigen oder der „After Tarot“, bei dem man Einblicke gewinnt, was denn „nach“ den berühmten im Waite-Smith-Tarot festgehaltenen Momenten passiert sein könnte.

Neben Waite-Smith und ihren zahllosen Epigonen gibt es aber noch einen weiteren Giganten: Crowley – ein ebenso begabter wie irritierender Polarisierer. Um den Thoth Tarot von Aleister Crowley und der Malerin Frieda Harris ranken sich viele Mythen, die meist in der bis heute umstrittenen Persönlichkeit Crowleys ihren Ursprung haben – bis hin zur Mutmaßung, diese Karten seien „schwarzmagisch“.

Die Karten selbst sprechen eine ganz andere Sprache: farbig, leuchtend, symbolisch hoch angereichert und wie der Waite-Smith Tarot mit einigen erstaunlichen Neuerungen. Die Karte „Rad des Schicksals“ heißt jetzt „Glück“, die „Kraft“ wurde zur „Lust“ und die Kardinaltugend „Mäßigung“ zur „Kunst“. Crowley war ganz offensichtlich kein Katholik (im Gegensatz zu Waite und Smith)…

Dabei scheint sich der Crowley-Harris Tarot enger an die Ideen des „Order of the Golden Dawn“ zu halten, die Hinweise auf Bezüge zu Astrologie und Kabbalah und anderem hermetischen Wissen sind im Vergleich zu Waite ganz offen und unverschleiert. Lady Frieda Harris, die Künstlerin hinter den Bildern war ebenso wie Crowley Mitglied im „Ordo Templi Orientis“, einem Nachfolger des „Golden Dawn“. Die Karten wurden zwischen 1938 und 1942 gemalt, eine erste Veröffentlichung 1944 fand im Rahmen des Buches „Book of Thoth“ statt, als Kartendeck allerdings erst im Jahr 1968, über 20 Jahre nach dem Tod Crowleys im Jahr 1947! (Immerhin finden wir 1967 ein Foto von Aleister Crowley auf der Collage zum Beatles-Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“.)

Ein wunderschönes zweibändiges Werk zu Leben und Tarot von Aleister Crowley stammt übrigens vom (leider 2017 verstorbenen) Schweizer Okkultisten Akron: „Akrons Crowley Tarot Führer“.

Wir sind noch nicht fertig…

Natürlich gibt es auch einige Crowley-Klone (deutlich weniger als bei Waite), aber auch einige sehr spannende und vollständig unabhängige Decks, die von inspirierten Künstlern / Künstlerinnen der letzten Jahre stammen:

Margarete Petersen (Absolventin der Hochschule für Bildende Künste, Berlin) hat über 22 Jahre an ihrem Tarot-Deck gemalt, das 2001 veröffentlicht wurde – ein farb- und bildgewaltiges Panorama zwischen Symbolismus uns Surrealismus. Hier finden wir den seltenen Fall, dass jemand in aller Konsequenz und Ausdauer dem eigenen spirituellen Pfad gefolgt ist, zugleich aber auch ein überragendes technisch-malerisches Können mitbringt und beides zusammen zu einem höchst inspirierten Ergebnis geführt hat. Zu diesem Deck empfiehlt sich ihr sehr lesenswertes Buch „Narrensprünge“.

Hermann Haindl – ursprünglich ein versierter Bühnenbildner hat später eine zweite Karriere als Maler begonnen und hat mit dem „Haindl Tarot“ ein Werk geschaffen, das die spirituellen Traditionen Europas, Indiens, Ägyptens und Nordamerikas vereint. Die Bilder haben einen ganz eigenen Traumwelt-Charakter. Rachel Pollack – eine der ganz großen Tarot-Expertinnen weltweit – hat dazu das Arbeitsbuch „Der Haindl Tarot“ geschrieben und im Verlag Königsfurt Urania ist 2017 ein prächtiger Bildband zu „Leben, Werk und Tarot von Hermann Haindl“ erschienen.

Auch der schon hier genannte Akron (Charles Frey) hat einen Tarot, den Akron-Tarot geschaffen, gemalt von Siegfried Otto Hüttengrund mit alter Holzriss-Technik, oft düster und geheimnisvoll, aber mit Bildern, die sofort „sprechen“.

Es gäbe hier noch mehr spannende Entdeckungen: Der ebenfalls etwas düstere „Mary-El Tarot“ von Marie White, der leuchtend bunte „Langustl-Tarot“, Siolo Thompsons be-/verzaubernder „Linestrider-Tarot„, Carl-W. Röhrigs sehr moderner Tarot – im „Phantastischen Naturalismus“ gemalt oder auch der bemerkenswerte „Sentenzia“ Tarot von Eva-Christiane Wetterer und Anja-Dorothee Schacht, der das Wort (und dessen gekonnte typografische Darstellung) in den Mittelpunkt stellt. Der „Wild Unknown“ Tarot von Kim Krans ist ein sehr minimalistisch illustrierter Tarot, der sehr viel mit wenigen Strichen transportiert.

Und sonst? Natürlich ist neben diesen Perlen auch viel Mittelmäßiges auf dem Markt, entweder sofort als Waite-Klon (gähn) erkennbar oder einfach nach dem Motto „wir machen mal einen Tarot zum Thema XYZ“ (Vampire, irgendwas „gothic“-artiges, junge Hexen, alte Wälder, vielleicht ein Kinofilm, was auch immer…). Schnarch.

Wer es bis jetzt noch nicht bemerkt hat: Ich liebe die verschiedenen Tarot-Karten, die wertvollen Decks zeichnen sich dadurch aus, dass sie tatsächlich neue, bislang verborgen gebliebene Aspekte ans Tageslicht befördern. Bei aller Sammel-Leidenschaft sollte man daher schon etwas höhere Maßstäbe ansetzen und diejenigen aussortieren, die im Grunde nur „alten Wein in neuen Schläuchen“ anbieten. Umso mehr Zeit bleibt für die Beschäftigung mit den „großen“ Decks, die in der Lage sind, einen auch nach Jahrzehnten der Beschäftigung zu überraschen. Zum Kartenlegen taugen freilich auch die nicht ganz so tollen Karten.

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Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com