9. Die große Beliebigkeit.

Dem Tarot wird manchmal vorgeworfen, dass sich die verschiedenen Autoren und Schulen so weit und in vielfacher Weise widersprechen, dass im Endeffekt die Auslegung der Bedeutung der Karten vollkommen beliebig würde.

Da ist schon was dran.

Ein Beispiel für ganz konträre Auslegungen haben wir bereits bei unserer (vorläufigen) Betrachtung des Teufels kennen gelernt. Und natürlich bringen unterschiedliche Tarot-Decks auch ganz unterschiedliche Blickwinkel mit sich, sind in unterschiedliche Kontexte eingebettet, stammen von Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund usw.

Es gibt – glücklicherweise! – keine „Oberste Tarot-Behörde“, die erst einmal jedes Tarot-Deck, aber auch jede Literatur zum Tarot vorweg absegnen und freigeben müsste. Wenn vielleicht auch einzelne Tarot-Autoren und -Autorinnen ihre Sicht der Tarot-Welt etwas dogmatisch vertreten, so trifft das ganz bestimmt nicht für die Gesamtheit aller „Tarot-Verrückten“ zu: Jede/r kann letztlich mit dem Tarot machen, was ihr/ihm beliebt. Manches wird dann höchst originell sein und ganz neue Wege betreten, anderes eher gequält (um nicht „gequirlt“ zu sagen) wirken. Sei es drum!

Tendenziell sind hier übrigens derzeit die englischsprachigen Länder führend, die deutschsprachige Tarot-Szene ist leider seit einigen Jahren vergleichsweise wenig aktiv, auch was die Zahl und visionäre Qualität von Publikationen, Foren, sozialen Medien usw. betrifft. Die letzten für mich wirklich bemerkenswerten Veröffentlichungen waren der Sentenzia Tarot (Eva-Christiane Wetterer und Anja-Dorothee Schacht) sowie das Buch „Narrensprünge“ von Margarete Petersen zu ihrem Tarot – beides bereits aus dem Jahr 2010. Vielleicht auch nur ein Dornröschenschlaf…

Also doch alles ganz beliebig? Oder gibt es zumindest bei den verschiedenen Tarot-Decks so etwas wie einen „(kleinsten) gemeinsamen Nenner“, der alle (brauchbaren) Tarot-Decks und die gesamte „Tarot-Gemeinde“ mit ihren unzähligen Publikationen umspannt?

Auch hier möchte ich wieder einen eher psychologischen Ansatz verfolgen: Jedes Deck hat eine seine ganz eigene Entstehungsgeschichte, seinen ganz eigenen Künstler/Künstlerin mit seinem/ihrem spezifischen Blick auf die Welt. Das spiegelt sich unmittelbar darin, dass diese verschiedenen Decks auch unterschiedliche Inhalte in uns aktivieren, andere Assoziationen, Emotionen, Erinnerungen usw. evozieren. Für mich als Benutzer und „Befrager“ der Karten ist es ein ganz enormer Unterschied, ob der „Magier“ der Holzschnitt eines Jahrmarkt-Tricksters ist wie beim Tarot de Marseille oder ob ich Das Walt-Disney-Zitat „Wenn Du es träumen kannst, kannst Du es auch machen“ lese, wie beim Sentenzia-Tarot (bei dem zudem auch noch die Art des Textsatzes zur Bedeutung beiträgt).

Selbstverständlich kann man mit viel gutem Willen auch hier noch eine gemeinsame Basis ausmachen, aber die Unterschiede sind dann doch oft ganz erheblich. Es wäre ja auch schade, wenn sie es nicht wären – welchen Sinn würden ansonsten mehrere unterschiedliche Tarot-Decks machen? Und nein, das ist gar nicht trivial: Man kann die schlechten, die epigonenhaften, die „me-too“-Decks genau daran erkennen: Tragen sie tatsächlich etwas Neues bei? Überraschen sie mich noch? Gibt es komplett unerwartete Aspekte? Oder wird eine altbekannte Szenerie (meist aus dem Waite-Smith-Tarot) lediglich in neuer „Kostümierung“ dargebracht?

Letztlich bedeutet das aber: Jedes Tarot-Deck (wenn es etwas taugt) muss komplett neu „erobert“ werden. Ich muss tatsächlich wieder bei NULL neu anfangen! Ein  gutes Beispiel ist der Tarot von Margarete Petersen: Was für eine mächtige Bildsprache! Aber so weit entfernt von allem bislang Bekanntem, wie man es sich nur vorstellen kann.

Dennoch sind auch diese sehr weit voneinander entfernten Decks nicht vollständig „beziehungslos“ gegenüber bestehenden – und insbesondere den „klassischen“ – Tarot-Decks. Man kann es sich vielleicht so vorstellen, wie ganz unterschiedliche Menschen ein und dieselbe Person wahrnehmen. Ein Ehepartner wird andere Aspekte sehen als ein Kollege, ein Lieferant andere als ein Kunde. Oder der Postbote, der Hausarzt, der Steuerberater, der Trambahnfahrer. Alle sehen dieselbe Person aus ihrer individuellen Perspektive, aber man wird als Außenstehender vielleicht niemals auf die Idee kommen, dass die alle über den gleichen Menschen sprechen. Und diese unterschiedlichen Perspektiven halten wir mit den verschiedenen Tarot-Decks in der Hand.

Es geht bei verschiedenen Decks also „irgendwie“ schon um das Gleiche, aber manchmal ist das einfach nicht mehr klar erkennbar. Und tatsächlich muss es das auch gar nicht sein: Wenn die gewählte Perspektive sowohl in sich logisch stimmig, als auch mit meinen Bedürfnissen kongruent ist, dann brauche ich zunächst einmal keine anderen Perspektiven. Die gewählte passt ja soweit.

Aber widerspricht das denn nicht der Idee, dass die großen Arkanen (und sehr wahrscheinlich auch die kleinen!) Archetypen gemäß C. G. Jung darstellen? Darf es unter diesem Gesichtspunkt überhaupt substanzielle Unterschiede zwischen verschiedenen Tarot-Decks geben?

Ein Archetypus ist allerdings etwas, das man „in freier Natur“ nicht wirklich zu Gesicht bekommt. Die Archetypen entsprechen viel mehr der platonischen Ideenwelt, von der wir immer nur die schattenhaften Projektionen zu sehen bekommen, die die jeweiligen Kulturen und Zeitalter daraus bilden. Was wir in den Karten in der Hand haben, sind stets nur Symbole für die Archetypen, und die dürfen sich freilich voneinander unterscheiden.

Der Tarot ist – so genutzt – vielleicht sogar ein sehr tauglicher Lehrmeister, um einfache „schwarz/weiße“ Erklärungen zu hinterfragen und nach weiteren, zunächst verborgenen Bedeutungen und Wahrheiten zu suchen.

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