3. Warum die „Heldenreise“ uns nirgendwo hin führt.

Das Thema „Heldenreise“ zu kritisieren ist etwas heikel. Es gibt immerhin eine ganze Reihe von Büchern namhafter Tarot-Experten, die sich eben jener Heldenreise innerhalb der großen Arkanen angenommen haben. Hajo Banzhaf ist darunter, Elisabeth Haich oder Karen Hamaker-Zondag. Auch bei Rachel Pollack findet man einiges Interessantes dazu. Und höchst wahrscheinlich ist die Heldenreise (oder die Reise der eigenen spirituellen Entwicklung) tatsächlich eine der Dimensionen, unter denen sich der Tarot betrachten lässt.

Der Held der Reise – der Narr – bewegt sich durch die 21 anderen großen Arkanen, bis er am Ende in der „Welt“ aufgeht. Dazwischen lauern Hängen, Tod und Teufel, aber auch hilfreiche Wegweiser wie der Eremit oder die Mäßigung. Diese Helfer kommen nicht zwangsweise von außen, sondern können durchaus auch für den Erwerb innerer Tugenden sein: Nimmt man zu Eremit und Mäßigung noch die Gerechtigkeit und die Kraft dazu, hat man die vier klassischen Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit (Kraft) und Weisheit (Eremit).

Trotzdem glaube ich, dass diese Perspektive – wenigstens aus psychologischer Sicht – nicht besonders lohnend ist und im Gegenteil sogar so manche Probleme aufwirft.

Ganz trivial ist zunächst einmal das Problem der Makro- und der Mikro-Perspektive. Dieselben 22 Karten der großen Arkana, die für prägnante Stationen einer lebenslangen „Heldenreise“ (einer spirituellen Entwicklung) stehen, nutze ich auch, um eine vergleichsweise banale Tageskarte zu ziehen. Eigentlich sollte ich mich Jahre auf einer der 22 Stationen des Lebenswegs aufhalten, habe aber munter gestern „Das Gericht“ gezogen, heute bin ich wieder beim „Teufel“ und morgen ziehe ich „Die Welt“.

Das erzeugt dann erst einmal ein vages Gefühl, dass sich die Makro-Perspektive des Lebenswegs und die Mikro-Perspektive der Tageskarte zumindest nicht auf demselben Niveau befinden und daher auch besser nicht verwechselt werden sollten. Das gestern gezogene „Gericht“ kann ja schlichtweg nicht in vollem Umfang eine Lebensstation meinen. Diese Lebensstation würde sich nie auf einen einzigen läppischen Tag beschränken – nicht zuletzt aufgrund ihrer Bedeutung und der damit verbundenen Schwierigkeiten, sie zu meistern  und ihrer Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. So etwas braucht doch ein gerütteltes Maß an „Anlauf“ und wird danach meist noch eine ganze Weile „nachklappern“.

Das nächste Problem bezieht sich auf die Reihenfolge der Ereignisse, beziehungsweise der Lebensphasen. Sollte ein Entwicklungsprozess im Makro-Bereich (der sich also über mindestens Jahre, wenn nicht Jahrzehnte  zieht) nicht halbwegs linear sein? Gewiss gibt es immer wieder Rückschritte, aber nur extrem selten Sprünge ganz zurück an den Anfang und dann wieder zum Ende (vielleicht sogar zehn Stufen dabei überspringend!), sondern ich erobere mir meine nächste Stufe, integriere sie dabei idealerweise in mein Selbst, falle vielleicht nochmal auf die aktuelle Stufe zurück, aber im Großen und Ganzen bewege ich mich bei einer „Heldenreise“ nicht im Zickzack-Kurs. Wir reden hier nicht über komplizierte Beziehungskisten oder unkonventionelle berufliche Wege, sondern über grundsätzliche menschliche Reifungsprozesse. Wenn ich es gemeistert habe, „Tod“ und „Teufel“ hinter mir zu lassen, dann werde ich nicht als Nächstes nochmal als „Gehängter“ alles anders betrachten müssen, denn diesen Schritt sollte ich dann schon längst integriert haben.

Mir geht es nicht darum, die Vermutung „Tarot ist ein Spiegel der Heldenreise / des Lebenswegs“ grundsätzlich in Frage zu stellen. Es scheint mir nur bei einer alltäglichen Benutzung des Tarots keine besonders nahe liegende Perspektive zur Deutung der Karten zu sein. Wir werden später noch sehen, dass unsere bunten Karten noch eine ganze Menge weiterer Perspektiven vertragen, die alle ihre Berechtigung haben, aber: Die Frage ist, wofür wähle ich was?

Um nun doch noch einen Schritt weiter zu gehen: So gaaaanz schlüssig ist das mit der Heldenreise per se – auch unabhängig vom Brückenschlag zur alltäglichen Tarot-Nutzung – leider ebenfalls nicht, wenn wir etwas näher hinsehen.

Der Narr. Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

Fangen wir beim Narren an. In moderner Deutung ist das der „Held“, der – naiv wie Parzival – auf die Reise geht, um die 21 Stufen der menschlichen Entwicklung zu meistern. Deshalb erhält er auch keine Nummer sondern die Null, bzw. wird in alten Decks tatsächlich ohne eigene Nummer dargestellt. Bei Waite-Smith passt das auch sehr gut: Der Narr ist jung und hübsch, eigentlich ganz gut gekleidet (wenn auch etwas zerfleddert durch die Reise), er scheint die Abgründe um ihn herum nicht zu sehen und wird durch sein Hündchen vor gröberen Fehltritten beschützt. Ganz anders bei den älteren Tarots von Oswald Wirth, beim Tarot de Marseille oder im Visconti-Sforza Tarot: Hier ist der Narr noch ein heruntergekommener Landstreicher, er ist möglicherweise sogar geistig verwirrt. Das ihn in manchen Darstellungen begleitende Tier (Hund, Katze) beschützt ihn nicht, sondern fällt ihn an und beißt herzhaft in sein Bein. Zumindest ein paar leise Zweifel scheinen mir angebracht, ob der Narr der frühen Tarot-Decks tatsächlich als „Held“ einer Heldenreise gedacht war. Bewiesen ist mit solchen Zweifeln freilich noch nichts.

Der Magier. Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, www.koenigsfurt-urania.com

Nicht weniger problematisch ist der Magier. Zumindest bei Waite-Smith war das für mich immer die kraftvollste Karte im ganzen Stapel. Was für eine Körperhaltung! Eine Mischung aus lässig-entspannt, demonstrativ gegenüber uns als zuschauendem Publikum und gleichzeitig bis zum Rand mit Energie aufgeladen, die zwischen den beiden Polen, die durch seine Hände aufgespannt werden, fließt. Beinahe wie einen Blitzableiter hält die rechte Hand den magischen Stab und leitet die Energie „von oben“ durch den Körper und die linke Hand „nach unten“. Wie oben, so unten ist eine der Kern-Lehren der Esoterik überhaupt – und genau das demonstriert uns dieser Magier in vollendeter Weise. Vor sich auf dem Tisch liegen – ihm zu Diensten – alle vier „magischen Instrumente“ (bzw. Elemente), die die Quintessenzen zu den 56 kleinen Arkanen darstellen. Worauf will ich hinaus? Na ja, dieser unglaublich kraftvolle und mit allen magischen Mächten ausgestattete Magier ist erst die allererste, kleinste und mickrigste Stufe von allen. An dieser Stelle möchte ich also weitere ganz leichte Zweifel an der Story von der Heldenreise anmelden. Und nebenbei: Der Magier hat eine erhebliche Umdeutung durch Waite-Smith erfahren, wenn wir uns den Jahrmarktsgaukler auf dem Marseille- oder Visconti-Sforza Tarot betrachten.

Die Karten 1 bis 5 sind überhaupt komisch.

Oft wird ja im Sinne der Heldenreise argumentiert, der Magier und die Hohepriesterin seien die „himmlischen“/spirituellen Eltern, die Herrscherin und der Herrscher dagegen die „irdischen“ Eltern des Helden [z.B. Banzhaf, „Tarot und der Lebensweg des Menschen“, Kailash, 2005]. Die Interpretation ist zweifellos möglich, wirkt aber trotzdem irgendwie „bemüht“. Das Problem an dieser Interpretation ist: wir verschenken hier vier Karten für zwei ominöse Elternpaare, die aber abgesehen von ihrer Elternschaft keinerlei, wirklich keinerlei weiteren Beitrag zur Geschichte der Heldenreise leisten. Machen die irgendwas besonderes mit dem Helden, außer als sie selbst da zu sein? Wie geht es dem Helden vor / nach diesen vier Karten? Warum kommen erst die spirituellen und dann die weltlichen Eltern? (Bei einer spirituellen Entwicklungsreise würde ich das eher anders herum erwarten.)

Und wenn es gar nicht die Eltern sind? Dann haben doch ihre Themen – nämlich die Beherrschung der magischen Kräfte, spirituelles Geheimnis / Mystik, schöpferisches Erzeugen von Neuem, Beherrschung von Strukturen (und jeweils noch einiges mehr) – nicht besonders viel auf den „Startplätzen“ der Heldenreise verloren. Ganz im Gegenteil, man würde sie sogar eher gegen Ende der Reise erwarten! Und dann ist da noch Nummer 5! Passt der Hierophant denn nicht viel besser zur Hohepriesterin!? In früheren Tarots hießen sie sogar „Papst“ und „Päpstin“, zudem haben beide (bei Waite-Smith) ein Säulen-Paar im Hintergrund, was aber wieder den Magier außen vor lässt und damit das schöne Pärchen-Spiel mit „himmlischen Eltern“ / „irdischen Eltern“ in Frage stellt.

Zudem entdecken wir die Lemniskate (die liegende 8, die für die Unendlichkeit steht) nicht nur über dem Kopf des Magiers, sondern (bei Waite-Smith) ebenso bei der weiblichen Figur der Stärke. Sind das nicht viel eher zwei, die zusammen gehören? Oder gehören gar der Magier und die Gerechtigkeit als Paar zusammen? Die Gerechtigkeit zeigt nämlich – etwas verbrämt durch die Gegenstände, die sie in den Händen hält – die gleiche Hand-Symbolik „Wie oben so unten“ (einer DER Grundsätze der Esoterik) des Magiers! Wir haben also auch bei den beiden „Elternpaaren“ zu Beginn der Heldenreise ganz leise Zweifel, ob das denn alles wirklich so eindeutig ist.

Und wenn wir ehrlich sind, stellt keine der 5 Karten einen echten „frühen“ Entwicklungsschritt dar.

Blicken wir doch mal ans andere Ende des Tunnels. Dort sitzt die Welt. Ist denn nicht das Aufgehen, die Auflösung des Individuums in der Welt das Ziel der Entwicklung? Aber ein wenig komisch ist die Karte ja doch: Bereits im Tarot de Marseille tanzt hier ein nahezu nacktes Fräulein in einem ovalen Kranze auf uns zu. Soso, da tanzt was Nacktes aus etwas Ovalem heraus, was könnte das nur sein? Nein! Doch! Ooh!! Könnte hier eine Geburt gemeint sein? Passt die Geburt – falls sie denn gemeint sein sollte – denn nicht eher zum Anfang einer Heldenreise? Geht hier denn nicht die ganze Misere los mit unserer Suche nach Individuation, nach Spiritualität und nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält?

Weitere Zweifel gefällig? A. E. Waite hat bei seinem Tarot-Deck die traditionelle Reihenfolge der Karten verändert. Aus der Nummer 8 „Gerechtigkeit“ wurde die Nummer 11, und die zuvor dort befindliche „Kraft“ wurde auf die 8 degradiert. Ist das denn im Sinne der Heldenreise egal? Zwischen den beiden Positionen liegen immerhin der Eremit und das Rad des Schicksals – im Sinne einer „Story“ dürften das durchaus kritische Stationen sein, für die es keineswegs egal sein kann, was vorher und was nachher passiert.

Wenn wir noch etwas weiter in die Vergangenheit des Tarot blicken, dann gab es da noch ganz andere Anordnungen der Karten. In frühen Tarots aus Ferrara beispielsweise war die Herrscherin die zweite Karte und die Päpstin (die heutige Hohepriesterin) befand sich auf Platz 4, unmittelbar vor ihrem männlichen Pendant, dem Papst. In alten Tarots aus Bologna war nicht die Welt die letzte Karte der „Heldenreise“, sondern das Gericht.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich kann man mit den 22 großen Arkanen eine Heldenreise erzählen. Aber man wird dabei auch auf mehr als nur eine Ungereimtheit stoßen, sobald die Reihenfolge der Stationen dieser Reise eine Rolle spielt. Dennoch möchte ich gerade die Heldenreise zu einem späteren Zeitpunkt – mit etwas mehr Rüstzeug im geschulterten Beutel des Narren – erneut aufgreifen.

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. http://www.koenigsfurt-urania.com/

2. Familientreffen: Welcher Tarot soll es denn sein?

Wenn man sich heute mit Tarot beschäftigen möchte, dann ist eine der ersten Hürden die Frage nach dem passenden Tarot-Deck. Es gibt derzeit etwa 1.000 verschiedene Decks, davon sind etwa 400 im Handel erhältlich.

Das ist ganz schön viel (mal wieder).

Beim Tarot gibt es immerhin so etwas wie einen Familienstammbaum mit Ahnen und Urahnen und dann noch die ganze buckelige Verwandtschaft. Die Vorläufer des Tarot waren tatsächlich Spielkarten, es gab prägende Einflüsse aus China und insbesondere auch aus dem mittelalterlichen Islam (Mammeluken). Der Tarot ist in gewisser Weise ein Resultat von einem gerüttelten Maß an „Multikulti“.

Die ältesten eigentlichen Tarot-Karten, die man auch als solche erkennen würde, stammen aus dem 15. Jahrhundert: Der Visconti-Sforza-Tarot und der Sola-Busca-Tarot. Der Visconti-Sforza-Tarot ist sehr aufwändig gestaltet, handgemalt und mit Blattgold verziert und zeigt bereits die großen Arkanen der modernen Tarot-Karten in aus heutiger Sicht einigermaßen vertrauter Darstellung, wenn auch ursprünglich ohne die heutige Nummerierung. Anders der Sola-Busca-Tarot: Hier sind die großen Arkanen aus der Geschichte des römischen Reiches entnommen und dafür aber die kleinen Arkanan durchgängig mit szenischen Illustrationen versehen. Fotografien der Karten waren 1907 im British Museum ausgestellt und dienten wahrscheinlich Pamela Colman Smith als Anregungen für einige ihrer eigenen Illustrationen im 1909 erschienenen Waite-Smith-Tarot. Dazu später mehr.

Wir springen 300 Jahre weiter in das 18. Jahrhundert. Der Tarot de Marseille. Die Darstellungen sind recht „grob“ und mit flächigen, plakativen Farben koloriert – die Karten sind per Holzschnittt-Druck erstellt. Im Gegensatz zu den kostbaren handgemalten Unikaten der Renaissance haben wir es hier also mit einer „Massenproduktion“ mehrerer verschiedener Hersteller zu tun. Wir finden kaum noch Abweichungen zu den modernen Bezeichnungen, die kleinen Arkanen sind allerdings nicht situativ bebildert.

150 Jahre später wird es  erstmals esoterisch. Oswald Wirth hat zum Ende des 19. / Beginn des 20. Jahrhunderts ein Tarot entwickelt, das zunächst nur wie ein weiterer Marseiller Tarot aussieht, aber bei ihm hantiert erstmals der Magier mit den vier magischen Werkzeuge Stab, Kelch, Münze und Schwert, der Wagen wird nicht mehr von Pferden, sondern von zwei Sphingen gezogen, usw. Die Tarot-Karten wurden also „angereichert“, eine Technik die von Waite und Smith noch sehr viel radikaler weiter entwickelt wurde und die heute Standard bei neuen Tarot-Decks ist.

Dann kam das wahrscheinlich einflussreichste Tarot-Deck von allen:

Zwei Mitglieder des „Order of the Golden Dawn“, Pamela Colman Smith als Zeichnerin und Arthur Edward Waite mit seinem weitreichenden esoterischen Wissen haben einen Tarot geschaffen, der bis heute mit großem Abstand der bedeutendste Tarot von allen wurde. Die Geschichte dieses Tarot-Decks ist mindestens eine eigene Abhandlung wert, eine sehr lesenswerte Darstellung findet man bei Katz und Goodwin: „Secrets of the Waite-Smith Tarot“.

Was ist so besonders am Waite-Smith (manchmal auch nach dem ersten Verlag „Raider“ als „Raider-Waite“ benannt)? Wie bei kaum einem anderen Tarot sind hier die Illustrationen mit Symbolen quasi „aufgeladen“, zudem gibt es über diese reichhaltige Symbolsprache ein ganzes Netzwerk an Querverweisen zwischen den Karten, sowohl bei den großen als auch den kleinen Arkanen. Pamela Colman Smith hat in überragender Weise Emotionen in die Körpersprache der Akteure auf den Karten übertragen – ein Blick genügt und wir wissen sofort, um was es hier jeweils geht.

Im Vergleich zu allen Tarots zuvor ist das Waite-Smith-Deck ein Quantensprung: Weg von „holzschnittartigen“ Figuren wie noch im Tarot de Marseille und hin zu „theatralischen“ Szenerien mit realistischer Körpersprache. Pamela Colman Smith war nicht umsonst bei der Illustration vieler Theaterprojekte involviert.

Springen wir in die Gegenwart. Ein großer Teil aller modernen Tarot-Decks sind im Grunde Variationen und Interpretationen eben dieses Waite-Smith-Tarots. Es gibt ganz direkt abgeleitete „Klone“ wie das „Universal Waite Tarot“ oder das „Radiant Waite Tarot“, bei denen lediglich die Kolorierung nach heutigem Geschmack etwas „gefälliger“ gemacht wurde, es gibt Neu-Zeichnungen der im Prinzip gleichen Szenerien, wie das „Morgan-Greer Tarot“ oder das „Hanson-Roberts Tarot“, eine Darstellung mit Gummibärchen als Darsteller, Übertragungen in ein anderes Habitat wie der beliebte „Druid Craft“ Tarot, bei dem sich alles unter, na? Druiden abspielt, daneben aber auch recht originelle Arbeiten wie den „Vice Versa Tarot“, bei dem versucht wird, die ursprünglichen Szenen des Waite-Smith Decks von einer anderen Seite aus mit bis dahin unsichtbaren Details zu zeigen oder der „After Tarot“, bei dem man Einblicke gewinnt, was denn „nach“ den berühmten im Waite-Smith-Tarot festgehaltenen Momenten passiert sein könnte.

Neben Waite-Smith und ihren zahllosen Epigonen gibt es aber noch einen weiteren Giganten: Crowley – ein ebenso begabter wie irritierender Polarisierer. Um den Thoth Tarot von Aleister Crowley und der Malerin Frieda Harris ranken sich viele Mythen, die meist in der bis heute umstrittenen Persönlichkeit Crowleys ihren Ursprung haben – bis hin zur Mutmaßung, diese Karten seien „schwarzmagisch“.

Die Karten selbst sprechen eine ganz andere Sprache: farbig, leuchtend, symbolisch hoch angereichert und wie der Waite-Smith Tarot mit einigen erstaunlichen Neuerungen. Die Karte „Rad des Schicksals“ heißt jetzt „Glück“, die „Kraft“ wurde zur „Lust“ und die Kardinaltugend „Mäßigung“ zur „Kunst“. Crowley war ganz offensichtlich kein Katholik (im Gegensatz zu Waite und Smith)…

Dabei scheint sich der Crowley-Harris Tarot enger an die Ideen des „Order of the Golden Dawn“ zu halten, die Hinweise auf Bezüge zu Astrologie und Kabbalah und anderem hermetischen Wissen sind im Vergleich zu Waite ganz offen und unverschleiert. Lady Frieda Harris, die Künstlerin hinter den Bildern war ebenso wie Crowley Mitglied im „Ordo Templi Orientis“, einem Nachfolger des „Golden Dawn“. Die Karten wurden zwischen 1938 und 1942 gemalt, eine erste Veröffentlichung 1944 fand im Rahmen des Buches „Book of Thoth“ statt, als Kartendeck allerdings erst im Jahr 1968, über 20 Jahre nach dem Tod Crowleys im Jahr 1947! (Immerhin finden wir 1967 ein Foto von Aleister Crowley auf der Collage zum Beatles-Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“.)

Ein wunderschönes zweibändiges Werk zu Leben und Tarot von Aleister Crowley stammt übrigens vom (leider 2017 verstorbenen) Schweizer Okkultisten Akron: „Akrons Crowley Tarot Führer“.

Wir sind noch nicht fertig…

Natürlich gibt es auch einige Crowley-Klone (deutlich weniger als bei Waite), aber auch einige sehr spannende und vollständig unabhängige Decks, die von inspirierten Künstlern / Künstlerinnen der letzten Jahre stammen:

Margarete Petersen (Absolventin der Hochschule für Bildende Künste, Berlin) hat über 22 Jahre an ihrem Tarot-Deck gemalt, das 2001 veröffentlicht wurde – ein farb- und bildgewaltiges Panorama zwischen Symbolismus uns Surrealismus. Hier finden wir den seltenen Fall, dass jemand in aller Konsequenz und Ausdauer dem eigenen spirituellen Pfad gefolgt ist, zugleich aber auch ein überragendes technisch-malerisches Können mitbringt und beides zusammen zu einem höchst inspirierten Ergebnis geführt hat. Zu diesem Deck empfiehlt sich ihr sehr lesenswertes Buch „Narrensprünge“.

Hermann Haindl – ursprünglich ein versierter Bühnenbildner hat später eine zweite Karriere als Maler begonnen und hat mit dem „Haindl Tarot“ ein Werk geschaffen, das die spirituellen Traditionen Europas, Indiens, Ägyptens und Nordamerikas vereint. Die Bilder haben einen ganz eigenen Traumwelt-Charakter. Rachel Pollack – eine der ganz großen Tarot-Expertinnen weltweit – hat dazu das Arbeitsbuch „Der Haindl Tarot“ geschrieben und im Verlag Königsfurt Urania ist 2017 ein prächtiger Bildband zu „Leben, Werk und Tarot von Hermann Haindl“ erschienen.

Auch der schon hier genannte Akron (Charles Frey) hat einen Tarot, den Akron-Tarot geschaffen, gemalt von Siegfried Otto Hüttengrund mit alter Holzriss-Technik, oft düster und geheimnisvoll, aber mit Bildern, die sofort „sprechen“.

Es gäbe hier noch mehr spannende Entdeckungen: Der ebenfalls etwas düstere „Mary-El Tarot“ von Marie White, der leuchtend bunte „Langustl-Tarot“, Siolo Thompsons be-/verzaubernder „Linestrider-Tarot„, Carl-W. Röhrigs sehr moderner Tarot – im „Phantastischen Naturalismus“ gemalt oder auch der bemerkenswerte „Sentenzia“ Tarot von Eva-Christiane Wetterer und Anja-Dorothee Schacht, der das Wort (und dessen gekonnte typografische Darstellung) in den Mittelpunkt stellt. Der „Wild Unknown“ Tarot von Kim Krans ist ein sehr minimalistisch illustrierter Tarot, der sehr viel mit wenigen Strichen transportiert.

Und sonst? Natürlich ist neben diesen Perlen auch viel Mittelmäßiges auf dem Markt, entweder sofort als Waite-Klon (gähn) erkennbar oder einfach nach dem Motto „wir machen mal einen Tarot zum Thema XYZ“ (Vampire, irgendwas „gothic“-artiges, junge Hexen, alte Wälder, vielleicht ein Kinofilm, was auch immer…). Schnarch.

Wer es bis jetzt noch nicht bemerkt hat: Ich liebe die verschiedenen Tarot-Karten, die wertvollen Decks zeichnen sich dadurch aus, dass sie tatsächlich neue, bislang verborgen gebliebene Aspekte ans Tageslicht befördern. Bei aller Sammel-Leidenschaft sollte man daher schon etwas höhere Maßstäbe ansetzen und diejenigen aussortieren, die im Grunde nur „alten Wein in neuen Schläuchen“ anbieten. Umso mehr Zeit bleibt für die Beschäftigung mit den „großen“ Decks, die in der Lage sind, einen auch nach Jahrzehnten der Beschäftigung zu überraschen. Zum Kartenlegen taugen freilich auch die nicht ganz so tollen Karten.

Alle Texte sind urheberrechtlich geschützt. Verbreitung (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. www.koenigsfurt-urania.com

1. Was ich über Tarot gelernt habe, was ich nicht gelernt habe und was ich vielleicht noch lernen werde.

Die bunten Karten begleiten mich jetzt schon seit ein paar Jahrzehnten, nachdem ich als Jugendlicher – auf der Suche nach „okkulten Wahrheiten“ – darauf gestoßen war. Damals (Anfang der 80er Jahre) hatte ich meine erste Begegnung mit esoterischer Literatur, war abwechselnd begeistert, skeptisch und verwirrt. Rudolf Steiner konnte also Auren sehen, hmm, und Aleister Crowley hatte, so hieß es wenigstens, mindestens eines seiner Bücher mit Hilfe der Einflüsterungen von einem Dämon geschrieben. Wie das wohl war – „Herr Crowley bitte zum Diktat“?

Am interessantesten aber waren die Tarotkarten. Sie gab es aber nicht nur vom Herrn Crowley, sondern auch noch von einem gewissen Rider Waite. Außerdem konnte man ja auch noch pendeln, Horoskope ausrechnen und Herr von Däniken berichtete über außerirdische Mayas. So in etwa stellte sich mir das damals dar. Mit 14 Jahren ist die Welt verwirrend, aber wenigstens noch übersichtlich.

Ein paar Jahre später habe ich dann Psychologie studiert und meine esoterischen Interessen wurden erst einmal zurückgestellt für die rationale Sicht der Naturwissenschaft und ihre Erklärungsmodelle dafür, was uns Menschen im Innersten bewegt. Geblieben ist mir aber stets die Faszination der Tarotkarten, ihr noch nicht einmal auf den zweiten oder dritten Blick vollständig durchschaubarer Reichtum an Symbolen und Bedeutungsebenen, aber auch mein Staunen über die „Treffsicherheit“ dessen, was mir die Karten bei jeder Legung eröffneten.

Wie war das möglich? Also doch so etwas wie Magie?

Viele Kenner des Tarot würden sagen: Ja klar, da ist definitiv noch „mehr“ dahinter. Die wahrscheinlich meisten Bücher zum Thema Tarot beschäftigen sich mit dem „wahrsagerischen“ Aspekt der Karten. Trotzdem ist die Divination nicht die einzige Seite des Tarots, die betrachtenswert ist. Arthur Edward Waite (der mit-Schöpfer des heute bekanntesten Tarots) hielt zum Beispiel von dieser Sicht herzlich wenig. Ihm waren die (damals streng geheim gehaltenen) Aspekte eines spirituellen Reifungsprozesses, der sich in den Karten widerspiegelt viel wichtiger. Spätere Interpreten sahen in den 22 großen Arkanen die Darstellung einer Heldenreise, wie wir sie in vielen Mythen der Welt finden und wie sie in allgemeiner Form Joseph Campbell in seinem richtungsweisenden Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ beschrieben hat.

Wieder andere Tarot-Autoren sahen in den Karten eine Überlieferung altägyptischer Weisheit oder verbanden die 22 großen und 56 kleinen Arkanen mit anderen hermetischen Wissensgebieten wie der Astrologie, der Alchemie oder mit den tiefgründigen Aspekten der Kabbala. Auch Verknüpfungen mit dem Neuheidentum, mit Schamanismus, Runen, I Ging, dem hebräischen Alphabet, Numerologie, indianischer Religion usw. gab es. Wenig davon ist bei näherer Betrachtung wirklich überzeugend und in sich stimmig, obwohl jedes dieser esoterischen Systeme für sich genommen sehr wertvoll und hilfreich sein kann.

Und Psychologie? Hier finden wir vieles in der Nachfolge von C. G. Jung: Die Arkanen als Archetypen, das Verfahren des Kartenlegens als ein Prozess der Synchronizität – Jung hat sich intensiv mit verschiedenen Aspekten des „Okkultismus“ beschäftigt.

Speziell die von Jung direkt beschriebenen Archetypen finden wir direkt 1:1 in unseren Karten: der Schatten (der Teufel), der Alte (der Eremit), das Kind (die Sonne), die Mutter (die Herrscherin), das Mädchen (die Hohepriesterin), Anima (Kraft) und Animus (der Magier). [z.B. Zum psychologischen Aspekt der Korefigur, Edition C.G. Jung, Patmos, Band 9/I, Patmos]

Ganz schön viel, oder? Dazu noch unterschiedlichste Lesarten der Karten, von den Myriaden verschiedener Decks ganz zu schweigen. Und das waren jetzt nur ein paar Stichworte zu Themen, die ich persönlich kennenlernen durfte. Und ich kenne ganz bestimmt nicht alles, was man über Tarot wissen kann.

Die Frage stellt sich also:

Bringt man das alles noch unter den sprichwörtlichen Hut oder endet man in einer vollständigen Beliebigkeit?

Ist denn – ganz ketzerisch gefragt – vielleicht eine solche Beliebigkeit am Ende sogar das Erfolgsrezept des Tarot, weil sich niemand wirklich festlegen muss? Nach dem Motto: „Widersprüche zwischen verschiedenen Lesarten? Egal! Soll jeder mal machen, wie’s grad passt.“

Dieser Blog soll dazu dienen, die Dinge etwas zu ordnen und dazu meine ganz persönliche Sicht des Tarot darzulegen. Es soll nachvollziehbar sein, dass der Tarot als extrem reichhaltiges Symbolsystem offene Punkte in uns sozusagen „zum Schwingen“ bringen kann. Und zwar höchst präzise. Ich möchte auch zeigen, was man dafür konkret tun kann und was man dabei wissen sollte.

Zum Schluss noch ein etwas paradox klingender, aber für den Umgang mit den Karten sehr wichtiger Punkt: Damit uns die Karten genau die richtigen Botschaften sagen können, die komplett „ins Schwarze“ treffen, muss ein gewisses Vertrauen darauf vorhanden sein, dass sie genau dazu in der Lage sind. Das ist so in etwa wie die Sache mit den Placebos: In einem Placebo steckt kein „Wirkstoff“ im eigentlichen Sinne, aber trotzdem haben sich Placebos in vielen Studien (je nach Krankheitsbild freilich unterschiedlich ausgeprägt) als sehr wirksam gezeigt, auch gegenüber „echten“ Medikamenten, z.B. Schmerzmitteln. Wir müssen nur davon überzeugt sein, den Rest macht ein bis heute nicht ganz verstandenes Zusammenspiel von Körper und Geist.

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung des Königsfurt-Urania Verlages, Krummwisch, © Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch / Deutschland. http://www.koenigsfurt-urania.com/